1. KAPITEL
… und so wurde sie all ihrer Autorität beraubt und nach Wessex gebracht.“
– Das Leben der Aelfwynn, Tochter der einzigen Lady der Mercier, so niedergeschrieben in der angelsächsischen Chronik, im Jahre des Herrn 918
Wie ein Berg aus Stein und Furcht stand der Nordmann mitten auf der alten Straße – ein Riese, der den Weg durch den dunkler werdenden Wald versperrte. Im ersten Moment glaubte Aelfwynn noch, sie würde sich ihn nur einbilden. Schon viele Stunden dauerte der unbequeme Ritt von der befestigtenburh Tamworth, wo sie vor einem halben Jahr den Tod ihrer Mutter, der so geliebten Lady der Mercier, hatte miterleben müssen. Sie waren noch vor den ersten Sonnenstrahlen des ersten Tages aufgebrochen und hatten trotz des zu dieser Jahreszeit eisigen Nebel ein zügiges Tempo angestrebt.
Jede morastige, überfrorene und tückische Unebenheit hatte Aelfwynn an diesem Tag allzu deutlich gespürt, der zum Teil so betrüblich war, weil das müde alte Pferd alles war, was ihr Onkel ihr für die lange und strapaziöse Reise nach Süden ins prachtvolle Königreich Wessex überlassen hatte. Aber sie reiste auch mit schwerem Herzen ab, und das machte jeden Schmerz und jedes Sehnen umso eindringlicher.
Ihre Gedanken hatten sich auf eine eigene Reise begeben, die wegführten von jenem neuen, ruhigen Leben, das sie in Wilton Abbey erwarten würde. Ihr Herz hatte sich nach dem gesehnt, was sie hinter sich zurückgelassen, was sie verloren hatte und was man ihr niemals zurückgeben würde.
Und dann war er wie ein Albtraum erschienen, ein Albtraum, wie Aelfwynn ihn viele Male durchlitten hatte – im wachen Zustand wie im Schlaf. Grund dafür waren die zahlreichen Schlachten, die sie in ihrem Leben hatte mitansehen müssen. Und bei den Gelegenheiten, bei denen ihr das erspart geblieben war, hatte sie von Ungewissheit erfüllt dagesessen und warten müssen, wer aus dem Kampf zurückkehrte und wer nicht.
Sie war das einzige Kind ihrer adligen Mutter, der ältesten Tochter des großen Königs Alfred von Wessex. Der Kampf gegen die unzähligen Wilden, die sich immer wieder gegen sie erhoben hatten, um ihnen ihre Ländereien wegzunehmen und sich als ihre neuen Herrscher auszurufen, hatte sie in Atem gehalten, solange sie alle zurückdenken konnten.
Die Schuld am Tod ihrer Mutter im letzten Juni und ihres ältlichen Vaters sieben Jahre zuvor gab sie der unerbittlichen Plage von Nordmännern wie diesem dort, ebenso aber auch den schrecklichen Dänen oder den verdammten Norse. Diese feindseligen, kriegerischen Männer aus dem Osten gaben einfach nie Ruhe, sondern raubten und plünderten und eroberten unablässig.Besiege sie im Westen, und sie erheben sich im Osten gleich wieder, hatte ihre Mutter stets gesagt.Und danach im Norden und im Süden. Das Einzige, was sich niemals änderte, war das Blutvergießen. Immer und ewig strömte das Blut und besudelte die Erde unter Aelfwynns Füßen.
Doch diese Erkenntnis half ihr heute Abend in keiner Weise dabei, dieses Hindernis zu passieren.
Dieser Nordmann war groß und breitschultrig, er war in Felle und Wolle gekleidet, was aber nicht über seine wahre Natur hinwegzutäuschen vermochte. Allein an der Art, wie er dastand, war offensichtlich, dass er ein Krieger war. Zwar schwieg er, doch schon seine Ausstrahlung hatte etwas Bedrohliches an sich. Der Schnee, der seit dem eisigen düsteren Mittag gefallen wa