I. Festung Benzenburg bei Rohrdorf
Anno domini 814
…und er ein Kind ist
»Atto, wo bleibst du? Wir müssen aufbrechen!«
Die Stimme des Grafen Eginhart von Rohrdorf verriet mühsam beherrschte Ungeduld. In einer Ecke des Stalls vergrub der sechsjährige Atto sein Gesicht im rauen Fell seiner Hündin. Mit aller Macht versuchte er, die Tränen zurückzuhalten.
»Auf Wiedersehen, Arla«, murmelte er mit erstickter Stimme. »Vergiss mich nicht.«
Widerstrebend löste er sich von dem Tier, das aus goldbraunen Augen zu ihm aufblickte, als würde es jedes Wort verstehen.
»Atto! Komm jetzt!«
Eginhart von Rohrdorfs hochgewachsene Gestalt erschien im Eingang des Stalls.
»Ich muss mich doch von Arla verabschieden, Vater!«
Atto versuchte, das Zittern in der Stimme zu verbergen, den Kopf hielt er gesenkt. Seine Tränen durfte der Vater nicht sehen. Graf von Rohrdorf machte einen Schritt auf Atto zu und legte die Hand auf die Schulter des Jungen. Seine Miene zeigte ein Wechselspiel an Regungen. Heute, zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche war der Tag gekommen, an dem er seinen Teil der Schuld einlösen musste. Nie hätte Eginhart gedacht, dass es ihm derart schwerfallen würde. Die Jahre schienen schneller vergangen als der Sturzflug eines Raubvogels. Er blickte auf die dunklen Locken des Jungen und erinnerte sich an den Tag der Geburt des Stammhalters von Rohrdorf, als wäre es gestern gewesen.
Im Dezember hatte sich Attos Geburtstag zum sechsten Male gejährt; vor wenigen Wochen war der große Kaiser Karl gestorben und das Reich versank in Trauer. Ludwig, der jüngste und einzige überlebende Sohn Karls, hatte sich bereits im Vorjahr auf Geheiß seines Vaters ohne den Segen des Papstes zum König und Mitkaiser gekrönt, und trat nun die schwere Nachfolge Karls an. Ludwig stand von Beginn an im übermächtigen Schatten seines Vaters. Niemand glaubte so recht daran, dass er die Rolle ausfüllen würde, die Karl der Große über siebenundvierzig Jahre hinweg meisterhaft bewältigt hatte. Am Hof in Aquisgranum hatte der junge Kaiser viele Kritiker und seit Karls Tod fanden heftige Machtkämpfe unter den Hofleuten statt, munkelte man. Somit war die politische Lage ungewiss und im Falle eines Krieges wollte Eginhart wenigstens seinen Ältesten in Sicherheit hinter Klostermauern wissen. Also wann, wenn nicht jetzt sollte er sein Versprechen einlösen? Mit diesem Gedanken besänftigte Eginhart sein Gewissen ein klein wenig. Carolina hatte darauf bestanden, ihn und ihren Sohn auf dem Opfergang zum Inselkloster Augia dives, die reiche Aue, zu begleiten, obwohl sie erneut ein Kind unter dem Herzen trug. Arwin, der bald seinen fünften Geburtstag beging, würde bei der Kinderfrau und einigen seiner Getreuen zurückbleiben.
»Komm.«
Eginhart schob Atto sanft, aber nachdrücklich vor sich her, hinaus auf den Hof, wo die Pferde gesattelt und aufgezäumt warteten. Zwei in Lederpanzer gekleidete Lehnsmänner würden die gräfliche Familie begleiten und für ihre Sicherheit sorgen. Neben der sanften grauen Stute, die Carolina reiten würde, warteten Attos Wallach, Eginharts Brauner, die Pferde für die beiden Bewaffneten und ein mit Gepäck, Proviant und Geschenken beladenes Lastpferd Hufe scharrend und schnaubend auf den Aufbruch. Der Atem aus den Nüstern der Tiere stieg dampfend auf und vermischte sich mit Nebelfetzen, die sich langsam in der Morgensonne auflösten. Eginhart hob Atto auf den Wallach, überprüfte mit geübten Handgriffen Steigbügel und Zaumzeug und gab dem Jungen die Zügel in die Hände.
»Wo ist Mutter?«
Atto rutschte unbehaglich auf dem Sattel herum. In den letzten Wochen hatte er immer wieder die Stimmen seiner Eltern aus der Halle dringen hören, wenn er abends neben seinem Bruder in der Kinderstube lag. Die Stimme seiner Mutter hatte etwas Drängendes, Flehendes gehabt, die des Vaters klang unerbittlich und bestimmt.
»Carolina, ich habe einen Eid vor Gott geleistet. Den kann ich nicht einfach zurücknehmen. Du als Christin musst das doch verstehen!«
»Ich verlange nicht von dir, dass du deinen Eid zurücknimmst oder brichst. Aber statt unser Kind zu opfern, könntest du dem Kloster eine großzügige Schenkung machen. Unser Landbesitz ist groß genug, um der Abtei etwas mehr davon zu schenken und damit betrügst du Gott nicht. Atto ist doch noch so klein. Außerdem liebt er das Leben auf der Feste. Er eifert dir nach, will Lehnsmann des Kaisers werden. Atto wird ein guter Nachfolger werden, wenn deine Zeit gekommen ist. Ist er älter, können wir ihn immer noch ins Kloster geben, damit er eine gute Ausbildung erhält.«
»Glaube mir, Weib, mir fällt es genauso schwer wie dir, ihn hergeben zu müssen. Aber unsere Sünde hätte dich und ihn beinahe das Leben gekostet.«
Stundenlang hatte Atto wachgelegen und gegrübelt, welche Sünde seine gottesfürchtigen Eltern begangen haben mochten. Für ihn war es unvor