: Leo N. Tolstoi
: Peter Bürger
: Was sollen wir denn tun? Übersetzt von Carl Ritter, mit einer Einführung von Raphael Löwenfeld
: Books on Demand
: 9783757843670
: 1
: CHF 5.30
:
: Gesellschaft
: German
: 340
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenige Jahre nach seiner Hinwendung zu"Christi Lehre" erhält Leo N. Tolstoi als Mitarbeiter der Moskauer Volkszählung Anfang 1882 erschütternde Einblicke in die elende Lage der Besitzlosen. Der begüterte Graf verliert die Illusion, eine karitative Hilfe von oben könne das Geschick der Armen wenden. In seiner Schrift"Was sollen wir denn tun?" (geschrieben 1882-1886) beleuchtet er schonungslos den Widerspruch des eigenen Lebens:"Ich gehöre der Klasse von Menschen an, welche durch allerlei Kunststücke dem arbeitenden Volk das Notwendigste raubt, und die sich durch solche Kunststücke den nie ausgehenden verzauberten Rubel verschafft haben, der diese Unglücklichen dann wieder verführt. Ich will den Menschen helfen, und daher ist es zu allererst klar, dass ich zunächst einmal die Menschen nicht plündern, sie dann aber auch nicht verführen darf. Statt dessen habe ich mir durch die kompliziertesten, listigsten, bösartigsten, durch Jahrhunderte bewährten Kunstgriffe die Lage des Besitzers des nie ausgehenden Rubels geschaffen, das ist die Lage, bei der ich, ohne dass ich selbst je etwas zu arbeiten brauche, Hunderte, ja Tausende von Menschen zur Arbeit in meinem Dienste zwingen kann, was ich auch tue; und ich bilde mir ein, dass ich die Menschen bemitleide, dass ich ihnen helfen will. Ich sitze einem Menschen auf dem Nacken, habe ihn erdrückt und verlange von ihm, er solle mich tragen. Dabei suche ich alle Menschen und mich selbst davon zu überzeugen, dass ich den Menschen sehr bemitleide, während ich nicht daran denke, abzusteigen; ich behaupte, seine Lage durch alle nur möglichen Mittel erleichtern zu wollen, nur nicht durch das eine, dass ich von seinem Nacken heruntersteige." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 7 (Signatur TFb_A007) Herausgegeben von Peter Bürger

Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane"Krieg und Frieden" (1862-1869) und"Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum"Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte"Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen"Kunstthe rie" und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt:"Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS
ZU DIESER NEUEDITION


„Er, der Schmarotzer, der sein ganzes Leben von der Arbeit anderer Menschen gelebt hatte, er, der Untaugliche, der nicht seine Stiefel selbst putzen oder seinen Tee selbst zubereiten konnte, der nicht einen Tag leben konnte, wenn er nicht hundert helfende Hände hatte, die ihm bei allem halfen, –er kam hierher und wollte ihnen ‚helfen‘, die mit Schufterei und Verzicht nicht nur sich selbst halfen, sondern auch beitrugen, seine Nahrung, Kleidung und Reichtum zu verdienen, für ihn und alle seine ‚gebildeten‘ Kollegen! War das nicht Wahnsinn? Hatte er sich nicht verhalten wie ein Mann, der anderen aus dem Morast helfen möchte und dabei selbst bis zu den Haarspitzen im Morast steckt?“

ARNE GARBORG (1851-1924)
über Tolstois Hinwendung zu den Armen in Moskau1

1881 zieht LEO N. TOLSTOI mit seiner Familie in die Moskauer Chamovniki-Straße und wird Anfang 1882 Mitarbeiter einer Volkszählung2 in der Großstadt. Wenige Jahre nach seiner Hinwendung zu ‚Christi Lehre‘ erhält er jetzt erschütternde Einblicke in die elende Lage der Besitzlosen. Die in diesem Band dargebotene Abhandlung „bietet einen grauenvollen Bericht von dem Leben und den Lebensbedingungen der Arbeiter. Viele Frauen hatten Kinder, wälzten sich aber trotzdem mit fremden Männern auf den schmalen Pritschen. Überall der gleiche unerträgliche Gestank, überall Menschen, die durch Alkohol verwahrlost waren, und in allen Gesichtern dieselbe Verachtung und Stumpfsinnigkeit. Tolstoj fühlte sich wie ein Arzt, der mit Medikamenten zu Kranken kommt, aber immer mit dem gleichen schlechten Gefühl, dass alles vergeblich ist. – Wenn diese Menschen an Hunger und Kälte zugrunde gingen, war es nicht ihre Schuld, folgerte Tolstoj. Sie waren mit unschuldigen Gefangenen zu vergleichen. Wenn jemand Schuld hatte, dann mussten das die Gefängniswärter sein, alle, die in Glanz und Freude lebten, in schicken Häusern wohnten und kostbare Wagen fuhren.“3 (GEIR KJETSAA)

Der begüterte Graf verliert sehr bald die Illusion, eine karitative Hilfe von oben könne das Geschick der Armen wenden. In seiner Schrift„Was sollen wir denn tun?“ (Tak čto že nam delatʼ?, 1882-1886) knüpft er an zurückliegende Überlegungen zum Eigentumsbegriff an, geht besonders ausführlich der Frage ‚Was ist Geld?‘ nach (Kapitel XVII – XXI) und beleuchtet schonungslos den Widerspruch des eigenen Lebens: „Ich gehöre der Klasse von Menschen an, welche durch allerlei Kunststücke dem arbeitenden Volk das Notwendigste raubt, und die sich durch solche Kunststücke den nie ausgehenden verzauberten Rubel verschafft haben, der diese Unglücklichen dann wieder verführt. Ich will den Menschen helfen, und daher ist es zu allererst klar, dass ich zunächst einmal die Menschen nicht plündern, sie dann aber auch nicht verführen darf. Statt dessen habe ich mir durch die kompliziertesten, listigsten, bösartigsten, durch Jahrhunderte bewährten Kunstgriffe die Lage des Besitzers des nie ausgehenden Rubels geschaffen, das ist die Lage, bei der ich, ohne dass ich selbst je etwas zu arbeiten brauche, Hunderte, ja Tausende von Menschen zur Arbeit in meinem Dienste zwingen kann, was ich auch tue; und ich bilde mir ein, dass ich die Menschen bemitleide, dass ich ihnen helfen will. Ich sitze einem Menschen auf dem Nacken, habe ihn erdrückt und verlange von ihm, er solle mich tragen. Dabei suche ich alle Menschen und mich selbst davon zu überzeugen, dass ich den Menschen se