: Maurice Leblanc
: Arsène Lupin gegen Herlock Sholmes
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783751809542
: 1
: CHF 13.50
:
: Historische Kriminalromane
: German
: 253
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Arsène Lupin gegen Herlock Sholmes enthält zwei ungewöhnlich heitere Geschichten über den trickreichen Meisterdieb und seinen scharfsinnigen englischen Gegenspieler. Maurice Leblanc festigte mit den beiden erstmals 1906/07 erschienenen Fortsetzungsromanen seinen Ruhm als französischer Conan Doyle. Schon fünf Jahre später wurden sie in Deutschland als Stummfilmserie in fünf Teilen verfilmt. In der ersten Geschichte stiehlt Lupin einen antiken Schreibtisch, in dem sich, wie sich später herausstellt, das Gewinnerlos einer Lotterie befand. Den Gewinn teilt sich der Meisterdieb mit dem alten Besitzer, denn das Los war nicht der Gegenstand, hinter dem er her war. Als eine geheimnisvolle blonde Dame ins Spiel kommt, und ein weiteres Verbrechen begangen wird, geraten die Dinge außer Kontrolle. Sholmes, dem die Enthüllung der Identität der Dame und Lupins Beteiligung an den Verbrechen gelingt, wird schließlich in eine Falle gelockt.

Maurice Leblanc, 1864 in Rouen, Normandie, geboren, lebte in Paris, wo er bis zur Erfindung Arsène Lupins mit mäßigem Erfolg als Journalist und Schriftsteller tätig war. Arsène Lupin, die zentrale Figur seiner legendären und vielfach verfilmten Krimis, machte den radikalen Anarchisten zum gefeierten Schriftsteller. Leblanc starb 1941 in Perpignan.

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LOS NUMMER 514 – SERIE 23


Am 8. Dezember des letzten Jahres stöberte Monsieur Gerbois, Mathematiklehrer am Gymnasium von Versailles, im Durcheinander eines Trödlers einen kleinen Mahagonischreibtisch auf, der ihm wegen seiner vielen Schubladen gefiel.

Das ist genau das, was ich für Suzannes Geburtstag brauche, dachte er.

Er hatte sich den Kopf zerbrochen, wie er seiner Tochter mit seinen bescheidenen Mitteln eine Freude machen könnte, und so feilschte er um den Preis und bezahlte schließlich fünfundsechzig Francs.

Als er gerade die Adresse angab, bemerkte ein junger, elegant gekleideter Mann, der schon überall herumgewühlt hatte, das Möbelstück und fragte:

»Wie viel?«

»Es ist verkauft«, erwiderte der Trödler.

»Oh! Dem Herrn hier vielleicht?«

Monsieur Gerbois verabschiedete sich, und glücklich darüber, dass er ein Möbelstück, das einem anderen ebenfalls gefiel, gekauft hatte, verließ er den Laden.

Er war jedoch noch keine zehn Schritte gegangen, als der junge Mann ihn einholte, den Hut zog und sehr höflich sagte:

»Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, Monsieur … ich möchte Ihnen eine indiskrete Frage stellen. Haben Sie gerade nach diesem Schreibtisch gesucht?«

»Nein. Ich war auf der Suche nach einer gebrauchten Waage für physikalische Experimente.«

»Also legen Sie keinen allzu großen Wert darauf?«

»Doch.«

»Vielleicht, weil er alt ist?«

»Weil er praktisch ist.«

»Würden Sie in diesem Fall einwilligen, ihn gegen einen ebenso praktischen, aber besser erhaltenen Schreibtisch umzutauschen?«

»Dieser ist gut erhalten. Ein Tausch scheint mir unnötig.«

»Und dennoch … «

Monsieur Gerbois war ein argwöhnischer, leicht reizbarer Mann. Er erwiderte kurz angebunden:

»Ich bitte Sie, Monsieur, bestehen Sie nicht weiter darauf.«

Der Unbekannte vertrat ihm den Weg.

»Ich kenne zwar nicht den Preis, den Sie dafür bezahlt haben, Monsieur, aber ich biete Ihnen das Doppelte.«

»Nein.«

»Das Dreifache?«

»Oh, hören Sie schon auf«, rief der Lehrer ungeduldig, »er steht nicht zum Verkauf.«

Der junge Mann fixierte ihn mit einem Ausdruck, den Monsieur Gerbois nicht vergessen sollte; dann drehte er sich wortlos auf dem Absatz um und entfernte sich.

Eine Stunde später brachte man das Möbelstück in das Häuschen, das der Lehrer an der Straße nach Viroflay bewohnte. Er rief seine Tochter.

»Der ist für dich, Suzanne, wenn er dir gefällt.«

Suzanne war ein hübsches, lebensfrohes und glückliches Mädchen. Sie warf sich ihrem Vater an den Hals und umarmte ihn so überschwänglich, als hätte er ihr ein königliches Geschenk gemacht.

Noch am selben Abend stellte sie den Tisch mit Hilfe des Hausmädchens Hortense in ihr Zimmer, säuberte die Schubladen und legte sorgfältig ihre Papiere, das Briefpapier, ihre Briefe und gesammelten Ansichtskarten sowie einige heimliche Schätze hinein, die sie zur Erinnerung an ihren Vetter Philippe aufbewahrte.

Am nächsten Morgen ging Monsieur Gerbois um halb acht Uhr ins Gymnasium. Um zehn Uhr erwartete ihn Suzanne wie alle Tage am Ausgang; für ihn war es immer eine große Freude, am Gitter auf dem gegenüberliegenden Gehweg ihre grazile Erscheinung mit dem Kinderlächeln zu entdecken.

Gemeinsam kehrten sie nach Hause zurück.

»Und dein Schreibtisch?«

»Ein wahres Wunder! Hortense und ich haben die Messingbeschläge geputzt. Man könnte meinen, sie wären aus Gold.«

»Du bist also zufrieden?«

»Und wie! Ich weiß nicht, wie ich bisher ohne ihn auskommen konnte.«

Sie durchquerten den Garten vor dem Haus. Monsieur Gerbois schlug vor:

»Wir könnten ihn vor dem Essen noch ansehen.«

»Oh, ja, das ist eine gute Idee.«

Sie stieg vor ihm die Treppe hinauf; aber als sie auf der Schwelle ihres Zimmers stand, stieß sie einen entsetzten Schrei aus.

»Was ist denn?«, stammelte Monsieur Gerbois.

Er trat ins Zimmer. Der Schreibtisch war verschwunden.

Den Untersuchungsrichter wunderte die verblüffende Einfachheit, mit der der Diebstahl durchgeführt worden war. Während Suzanne ausgegangen war und das Hausmädchen Besorgungen machte, hatte ein Spediteur – Nachbarn hatten das Schild gesehen – mit seinem Wagen vor dem Garten gehalten und zweimal geklingelt. Da die Nachbarn nicht wussten, dass das Hausmädchen unterwegs war, schöpften sie keinen Verdacht, sodass der Kerl seine Arbeit vollkommen ungestört verrichten konnte.

Erstaunlich dabei war, dass kein Schrank aufgebrochen, keine Uhr verschoben worden war. Und nicht nur das, nein, auch Suzannes Portemonnaie, das sie auf der Schreibtischplatte liegen lassen hatte, wurde mit allen seinen Goldstücken auf dem im Zimmer befindlichen Tisch wiedergefunden. Die Absicht des Einbruchs war eindeutig, aber sie machte ihn noch unerklärlicher, denn warum begab sich jemand für eine so geringe Beute in so große Gefahr?

Als einzigen Hinweis konnte der Lehrer den Vorfall des Vortags angeben.

»Bei meiner Weigerung drückte das Gesicht des jungen Mannes sofort lebhaften Ärger aus, und ich hatte die sehr deutliche Empfindung, dass er mich mit einer Drohung verließ.«

Das war sehr vage. Der Trödler wurde verhört. Er kannte weder den einen noch den anderen der beiden Herren. Das Möbelstück hatte er für vierzig Francs in Chevreuse bei einer Versteigerung nach einem Todesfall erworben, und er glaubte wohl, es zu einem angemessenen Wert weiterverkauft zu haben. Die folgende Untersuchung ergab nichts Neues.

Monsieur Gerbois war jedoch überzeugt, dass er einen großen Verlust erlitten hatte. In dem doppelten Boden einer Schublade musste ein Vermögen versteckt liegen; deswegen hatte der junge Mann, der das Versteck kannte, mit so großer Entschiedenheit gehandelt.

»Mein armer Vater, was hätten wir mit einem solchen Vermögen anfangen sollen?«, beruhigte ihn Suzanne.

»Wie kannst du fragen! Mit einer derartigen Mitgift könntest du die besten Partien machen.«

Suzanne, die ihre Absichten auf ihren Vetter Philippe beschränkte, der eine armselige Partie war, seufzte bitter. Und in dem Häuschen in Versailles ging das Leben weiter, weniger fröhlich, weniger unbekümmert, durch Klagen und Niedergeschlagenheit verdüstert.

Zwei Monate vergingen. Und dann, plötzlich und unerwartet, erfolgten Schlag auf Schlag einschneidende Ereignisse, eine unvorhergesehene Folge von glücklichen Zufällen und Katastrophen!

Am 1. Februar machte es sich Monsieur Gerbois, der gerade nach Hause gekommen war, um halb sechs Uhr mit einer Abendzeitung bequem, setzte sich die Brille auf und begann zu lesen. Da ihn Politik nicht interessierte, blätterte er die Seite um. Im gleichen Augenblick erregte ein Artikel unter folgender Überschrift seine Aufmerksamkeit:

»Dritte Ziehung der Lotterie der Pressegesellschaften.

Die Nummer 514 der Serie 23 gewinnt eine Million … «

Die Zeitung glitt ihm aus den Händen. Die Mauern schwankten vor seinen Augen, und sein Herz hörte auf zu schlagen. Die Nummer 514 der Serie 23 war seine Nummer! Er hatte das Los nur gekauft, um einem seiner Freunde einen Gefallen zu tun, denn er glaubte kaum an die Gunst des Schicksals, und jetzt gewann er!

Schnell zog er sein Notizbuch aus der Tasche.Nummer 514 der Serie 23 hatte er zur Erinnerung auf dem Schutzblatt notiert. Aber das Los?

Er stürzte in sein Arbeitszimmer, um das Kästchen mit den Briefumschlägen zu suchen, zwischen die er das kostbare Los gesteckt hatte; aber kaum hatte er den Raum betreten, erstarrte er, wankend und mit flatterndem Herzen: Das Kästchen stand nicht dort, und mit Entsetzen wurde ihm jäh klar, dass es schon seit Wochen nicht mehr da war! Seit Wochen hatte er es nicht mehr vor sich stehen sehen, wenn er die Hausaufgaben seiner Schüler korrigierte.

Er hörte Schritte auf dem Kies im Garten. Er rief:

»Suzanne! Suzanne!«

Sie eilte herbei, stürzte die Treppe hinauf. Erstickt stammelte er:

»Suzanne, das Kästchen … das Kästchen mit den Briefumschlägen?«

»Welches?«

»Das aus dem Louvre … das ich einmal an einem Donnerstag mitgebracht habe … es stand hier an der Tischkante … «

»Aber erinnere dich doch, Vater … wir haben es zusammen weggeräumt.«

»Wann?«

»An dem Abend … du weißt schon, am Abend jenes Tages … «

»Aber wohin? Antworte … Ich muss es wissen … «

»Wohin? In den...