1. KAPITEL
Die Briefe erwarteten Abby, als sie in die Wohnung zurückkam. Es war ein schlimmer Tag gewesen. Erst der Schlag, dass die Firma, bei der sie arbeitete,Bourne Electronics, in Kürze schließen würde. Dann das unangenehme Gespräch mit dem Klassenlehrer ihres Sohnes Matthew. Und jetzt also die beiden Briefe, die dem Poststempel nach beide aus Rothside kamen und Erinnerungen weckten, die Abby viel lieber vergessen hätte. In Rothside lebte auch der einzige Mensch, der sie je bei ihrem vollen Namen – Abigail – genannt hatte.
Matthew folgte ihr in das kleine Wohnzimmer. Er warf einen kurzen Blick auf die Briefe, die sie in der Hand hielt, dann ließ er sich auf die Couch fallen. Er war groß für sein Alter, so groß wie seine Mutter, und ein schwieriges Kind.
Abby hatte immer mehr Mühe, mit ihm fertig zu werden. Das war nicht immer so gewesen. Zehn Jahre lang hatte zwischen ihnen das schönste Einvernehmen geherrscht. Und dann hatte er eines Tages erfahren, dass sein Vater nicht tot war, wie seine Mutter ihm von klein auf erzählt hatte. Das hatte ihn gründlich aus der Bahn geworfen.
Die Erklärungen, die Abby für das Scheitern ihrer Ehe gegeben hatte, konnte oder wollte Matthew einfach nicht akzeptieren. Er suchte allein bei ihr die Schuld dafür, dass er ohne Vater aufwachsen musste.
Zuerst hatte Abby noch gehofft, dass Matthew den Schock im Lauf der Zeit überwinden, sich mit den Tatsachen abfinden würde. Aber die Zeit hatte die Wunde nicht geheilt. Im Gegenteil. Die Schwierigkeiten, die Matthew von diesem Augenblick an zu Hause und in der Schule machte, hatten immer mehr zugenommen.
Sein Klassenlehrer hatte ihr heute eröffnet, dass Matthew die Schule würde verlassen müssen, wenn er weiter ständig den Unterricht schwänzte und sich keine Mühe gab, etwas zu lernen. Das hatte Abby sehr getroffen. Aber im Augenblick trat diese Sorge in den Hintergrund vor der Frage, was ihr Mann ihr wohl zu sagen hatte.
Percy schrieb sonst nie. Seit dem Besuch im Krankenhaus nach Matthews Geburt hatte er sich nie mehr direkt mit ihr in Verbindung gesetzt. Abbys Hand zitterte ein bisschen, als sie den Umschlag aufschlitzte.
Sonderbar, dachte sie, dass ich mich noch so gut an seine Handschrift erinnere. Aber wenn sie es recht überlegte, war es doch nicht so erstaunlich. Schließlich hatte sie früher viele Stunden damit verbracht, die von ihm hastig hingekritzelten Briefe und Berichte zu entziffern und sauber abzutippen. Es hatte ihr Spaß gemacht, jeden Morgen zum Herrenhaus zu gehen und dort in der schönen alten Bibliothek zu arbeiten. Die anderen Mädchen hatten sie darum beneidet, dass sie die Stellung bei dem allseits umschwärmten Percy Roth ergattert hatte.
Sie zog den schweren Büttenbogen heraus.
„Liebe Abby …“, las sie.
„Von wem ist der Brief?“ Matthew hatte sich auf der Couch lang ausgestreckt. Er trug neuerdings die Haare extrem kurz geschnitten. Sie fand diese bei gewissen Halbwüchsigen sehr beliebte Mode ganz abscheulich.
Abby trat rasch ans Fenster, als ob sie mehr Licht brauchte. „Einen Augenblick“, sagte sie abwesend. Matthew zuckte ungeduldig die Achseln.
„Liebe Abby“, las sie. „Es dürfte keine Überraschung für Dich sein, wenn ich Dir sage, dass ich mich von Dir scheiden lassen will …“
Scheidung … Abby war einen Augenblick wie betäubt. Irgendwie war sie trotz der langen Trennung auf diesen endgültigen Bruch nicht vorbereitet. Vielleicht hatte sie sogar insgeheim gehofft, dass eines Tages doch noch alles gut werden, dass Percy ihr glauben würde. Diese Hoffnung konnte sie jetzt also begraben. Sie las weiter.
Ich weiß, dass ich eigentlich nicht verpflichtet bin, Dich davon persönlich in Kenntnis zu setzen. Aber ich schreibe Dir hauptsächlich deshalb, weil ich Dir versichern will, dass ich keine Feindschaft mehr für Dich empfinde. Was geschehen ist, kann man nicht ändern. Du warst zu jung für eine Ehe. Und ich als der weitaus Ältere hätte das erkennen müssen. Ich hoffe, Dir und dem Junge