1. KAPITEL
Lili Szabo saß in einer stickigen Küche in Neuengland, wo sie nicht zu Hause war, und schälte Kartoffeln in eine Plastikschüssel, die nicht ihr gehörte. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt, dachte sie missmutig. Verwaist, allein und auf einem spontanen Besuch bei amerikanischen Verwandten, die sie bis auf wenige Ausnahmen nicht kannte oder kaum erinnerte.
„Kommst du zurecht, Liebes?“, rief ihre Tante Magda Vaccaro von der Tür her.
Lili verdrängte ihr Selbstmitleid und lächelte. „Ja. Geh nur zu deinen Gästen, und genieß deine Party. Hier ist alles unter Kontrolle.“
„In diesem Haus? Niemals!“, widersprach Magda entschieden. Sie war ebenso stolz auf ihren ausgeprägten Akzent wie auf ihre blonde Hochfrisur und das theatralische Make-up, das sie noch immer auflegte, obwohl sie Ungarn und dem Zirkusleben vor über vierzig Jahren den Rücken gekehrt hatte. Normalerweise zwängte sie sich in enge Hosen und noch engere Oberteile, doch für diesen Tag hatte sie einen Sari gewählt, der mit schillernden Pailletten bestickt war. Dazu trug sie hochhackige Sandaletten und reichlich funkelnden Schmuck.
Die meisten Menschen verblassten neben ihr. Denn sie verstand es, sich auch ohne Rampenlicht in Szene zu setzen.
Angesichts dieser Extravaganz fühlte Lili sich in ihrem schlichten weißen Sommerkleid doch sehr unscheinbar.
Ihr Onkel Benny kam herein, holte sich ein Appetithäppchen von einer Platte und einen Kuss von Magda.
Lilis Selbstmitleid kehrte prompt zurück. Plötzlich war sie es leid, immer brav, verlässlich und vernünftig zu sein.
„Hat Tony sich schon blicken lassen?“, wollte Benny wissen.
Unwillkürlich horchte sie auf, obwohl der Name in italienischen Familien sehr gängig war und es sich daher nicht unbedingt um den gewissen Tony handeln musste.
„Noch nicht.“ Magda seufzte. „Aber der Junge kommt ja nie pünktlich, seit Marissa gestorben ist. So ein Jammer.“
Also doch.
Allerdings war es höchst unwahrscheinlich, dass der Tony von damals sich nach all den Jahren nicht verändert hatte, zumal er inzwischen Vater von drei kleinen Mädchen und seit knapp einem Jahr Witwer war. Was in aller Welt konnten sie jetzt noch gemeinsam haben?
Was hat euch denn jemals verbunden?
Benny beugte sich über Magda und gab ihr noch einen Kuss, bevor er aus dem Raum schlenderte wie ein Mann, der mit sich und der Welt absolut zufrieden ist.
Lili schälte weiter und dachte, dass Tony nach all der Verspätung vielleicht gar nicht mehr auftauchte.
„Müssen wir unbedingt dahin?“
Tony Vaccaro hatte alle Hände voll zu tun, um seine zweijährige Tochter anzuziehen, die sich kichernd wie ein Aal schlängelte. Er warf einen Blick zu seiner Ältesten, die mit gerunzelter Stirn in der Tür stand. „Ja, das müssen wir“, erwiderte er, obwohl es auch ihm nicht unbedingt zusagte, für den ganzen Clan eine heitere Miene aufzusetzen. Aber es hätte ernste Konsequenzen nach sich gezogen, die Einladung zur alljährlichen Geburtstagsfeier seiner Tante Magda abzulehnen. „Es wird uns allen guttun, mal aus dem Haus zu kommen und mit anderen Leuten zu reden. Außerdem hast du doch bestimmt nichts Wichtigeres in deinem Terminkalender stehen, oder?“
Endlich gelang es ihm, der Kleinen das Kleid über den Blondschopf zu ziehen. Aufatmend strich er sich sein eigenes Haar aus der Stirn, das etwas zu lang und nicht blond war. Josie nutzte den günstigen Augenblick und sprang vom Bett. Er packte sie mit einem Arm um die Taille und setzte sie zurück auf die Matratze, um ihr die Schuhe anzuziehen. „Sitz doch mal still!“
„Oh mein Gott! So kannst du sie aber unmöglich aus dem Haus lassen!“
Tony schloss die Augen, holte tief Luft und drehte sich zu Claire um. Ihre verdrossene Miene kaschierte kaum den Kummer in ihren kurzsichtigen Augen. Auch er litt immer noch unter Marissas Tod. Zudem quälte es ihn, dass er seinen Töchtern nicht über die Trauer hinweghelfen konnte.
Josie klammerte sich an seinen Hals und gab ihm schmatzende Küsse auf die Wange. Sie gingen ihm nahe, diese feuchten Küsse. Er musterte seine Jüngste und fragte Claire: „Was ist denn daran auszusetzen?“
Strahlend strich Josie über den Seidenbesatz an ihrem roten Samtkleid, das sie ganz hinten in ihrem Kleiderschrank gefunden und so entschieden zu tragen verlangt hatte, wie es nur eine Zweijährige schaffte, die nach einer Kaiserin benannt war. „Ich bin hübsch.“
Claire schob sich die Brille mit dem blauen Rahmen höher auf die Nase und sagte zu Tony: „Zum Beispiel, dass es ein Weihnachtskleid ist.“
„Und was willst du damit sagen?“
„Dass sie darin umkommt, weil wir Juli haben und es mörderisch heiß ist. Außerdem bekleckert sie sich bestimmt mit Senf und Ketchup und solchem Mist.“
„Sag nicht M-i-s-t, und schon gar nicht vor deiner kleinen Schwester“, ermahnte Tony seine Tochter erschöpft. Er schloss die Klettverschlüsse an den winzigen Turnschuhen, obwohl sogar er wusste, dass sie nicht zu dem Kleid passten. Sobald er Josie auf den Fußboden stellte, sauste sie wie eine aufgezogene Laufpuppe durch den Raum und kippte die Spielzeugtruhe aus, die er gerade gefüllt hatte. „Außerdem wird ihr das Kleid zu Weihnachten sowieso zu klein sein. Also, was soll’s?“
Claire stemmte die Hände in die Hüften. „Wer zum Teufel trägt ein Weih