1. KAPITEL
„Wunderbar!“, rief der Fotograf und hob die Kamera ans Auge. „Jetzt biegen Sie den Rücken durch. Gut. Und nun öffnen Sie ein ganz klein wenig die Lippen. Denken Sie an irgendetwas Erregendes.“
Leider konnte Claire Dellafield nur daran denken, wie peinlich es für eine Anthropologin wie sie war, in einer finsteren Seitenstraße von New York über einer Mülltonne zu hängen. So hatte sie sich ihren ersten Tag in der aufregendsten Stadt der Welt nicht vorgestellt.
Stöhnend richtete sie sich wieder auf und zog sich den Kragen zurecht. „Ehrlich gesagt war ich davon ausgegangen, dass Sie ein paar ganz normale Aufnahmen von mir hier vor dem Nachtklub machen. Irgendetwas, was die Universität mit den Ergebnissen meiner Forschungsarbeit verschicken könnte. Das hier …“, sie wies mit dem Kopf auf die dunkle Gasse, „… das macht doch alles gar keinen Sinn.“
Der Fotograf ließ die Kamera sinken. „Ich bin Evan Wang und nehme von niemandem Anweisungen entgegen. Sie sind das Model, ich bin der Künstler. Sie müssen mir schon vertrauen und tun, was ich Ihnen sage.“
„Ich bin kein Model“, stellte Claire klar. Ob der Fotograf vielleicht seine Aufträge verwechselt hatte? „Ich bin Dozentin für Anthropologie.“
„Genau das ist ja das Problem.“ Evan musterte sie kritisch von allen Seiten. „Aber jeder weiß, dass ich Wunder wirken kann.“
Claire unterdrückte mit Mühe eine heftige Erwiderung. Wäre sie bloß ihrem Instinkt gefolgt und hätte dieses Projekt abgelehnt! Aber das konnte sie sich als frischgebackene Anthropologin nicht leisten. Als das Penleigh College ihr den Vorschlag gemacht hatte, eine Studie weiterzuführen, mit der ihr Vater und das College berühmt geworden war, hatte sie nicht Nein sagen können. „Fremde in der Nacht“ hatte vor fünfundzwanzig Jahren großes Aufsehen erregt, und sicher machte ihr jetzt mancher den Vorwurf, sie würde sich nur an den Erfolg des Vaters anhängen.
Vielleicht war da sogar etwas dran.
Claire hob das lange dichte Haar im Nacken hoch und hoffte auf einen kühlen Luftzug, aber in der Straße stand die Luft. In Penleigh, der kleinen Stadt, in der sie aufgewachsen war und in der sie mit ihrem Vater auf dem Campus in einem gemütlichen kleinen Haus gewohnt hatte, war es nie so heiß gewesen. Vor neun Monaten war er nach langer schwerer Krankheit gestorben, und irgendwie empfand sie es als selbstverständlich, seine Arbeit weiterzuführen. Sie hatte seine Vorlesungen übernommen und hatte jetzt sogar vor, seine berühmte Forschungsarbeit fortzusetzen.
Bei dem Gedanken an den Vater wurden Claire die Augen feucht. Vor fünfundzwanzig Jahren war Marcus Dellafield hier gewesen, wo sie jetzt stand. Allerdings mussten damals keine sexy Aufnahmen gemacht werden, die seiner Untersuchung über das Paarungsverhalten des Menschen beigelegt wurden. Aber auch er hatte seine Untersuchungen hier in der Dschungelbar vorgenommen, früher eine der beliebtesten Singlebar in New York City.
Aber Professor Dellafield hatte nicht nur Daten gesammelt. Er hatte die kleine Claire aus diesem Milieu heraus adoptiert und sie in Penleigh allein aufgezogen. In der Presse war das damals groß herausgekommen – ein Professor, der einem unehelich geborenen Kind ein märchenhaftes Leben bot.
Und Claire hatte sich wirklich immer wie ein einem Märchen gefühlt. Ihr Adoptivvater hatte sie auf seinen Studienreisen mitgenommen und ihr die Welt gezeigt. Sie war in Borneo gewesen und in Tasmanien, hatte Mahlzeiten mit den Maoris in Neuseeland geteilt und mit einem schmalen Boot den Amazonas befahren.
Dieses Leben hatte ihr sehr gefallen und ihrem Vater auch. In den letzten Monaten seiner Krankheit hatte er ihr oft gesagt, dass er nichts bedauere. Er hatte alles erreicht, was er wollte, und sein Leben in vollen Zügen genossen.
Claire wollte es genauso machen. Aber es klappte nicht immer so, wie sie es sich vorstellte. Vielleicht sollte sie endlich dazu übergehen, die eigenen Träume zu verwirklichen. Aber erst einmal musste diese Arbeit abgeschlossen sein.
„Ich habe eine Idee“, bemerkte Evan schließlich. „Wir sollten Ihre unschuldige Ausstrahlung nutzen. Sie wirken wie ein Mädchen aus einer Kleinstadt, das die Welt erobern will.“
„Was?“ Claire sah ihn verblüfft an.
„Ja, natürlich!“ Evan zog eine kleine rote Baskenmütze aus seinem großen gelben Rucksack und reichte sie Claire. „Hier.“
Sie setzte die Mütze auf. „So?“
„Perfekt!“ Er zog die Mütze zurecht, trat dann einen Schritt zurück und sah Claire prüfend an. „Die Bluse stört.“
Sie blickte an ihrer gelben Baumwollbluse herunter, zuckte dann mit den Schultern und zog sie aus. Jetzt trug sie nur noch ihr weißes Tanktop und Kakishorts.
„Sehr viel besser.“ Evan hob die Kamera hoch. „Jetzt lehnen Sie sich bitte da gegen die Tür. Stellen Sie sich vor, die Tür sei ein Mann, an den Sie sich zärtlich schmiegen.“
„Warum das denn?“ Claire drehte sich widerstrebend zu der schäbigen Tür um.
Evan seufzte gequält auf. „Überlassen Sie das mir, ich weiß, was ich tue.“
In diesem Augenblick wurde die Tür von innen aufgestoßen.
„Autsch!“ Claire rieb sich das Schienbein.
„En