1Die Historiker und das Problem, den Nationalsozialismus zu erklären
Auch mehr als fünf Jahrzehnte nach der Zerstörung des Dritten Reiches haben führende Historiker bei einigen der grundlegendsten Erklärungs- und Interpretationsprobleme keine Einigung erzielen können. Natürlich sind in der Geschichtsschreibung seit der unmittelbaren Nachkriegszeit große Fortschritte gemacht worden. Die Historiker versuchten sich damals an einer Aufzeichnung der «Zeitgeschichte», noch bevor sich der Sturm der Entrüstung über die von Hitlers Armeen in Europa angerichtete Zerstörung etwas gelegt hatte; sie schrieben in einem politischen Klima, das von den entsetzlichen Enthüllungen der Nürnberger Prozesse und der Einsicht in das Ausmaß der Grausamkeit des Regimes geprägt war. Insofern kann es kaum überraschen, daß damals bei der Beschreibung der jüngsten Vergangenheit Anschuldigungen von seiten der Alliierten und Rechtfertigungen von seiten der Deutschen eine große Rolle spielten. Mit größerem zeitlichem Abstand haben zahlreiche, von einer neuen Historikergeneration veröffentlichte Forschungsarbeiten dazu beigetragen, unser Wissen über den Nationalsozialismus wesentlich zu erweitern – vor allem seitdem in den sechziger Jahren die von den Alliierten erbeuteten und inzwischen an die Deutschen zurückgegebenen Dokumente zugänglich gemacht worden waren. Doch sobald man versucht, an die detaillierten Monographien mit übergreifenden Fragestellungen heranzugehen, stößt man, was die Übereinstimmung bei der Interpretation des Nationalsozialismus betrifft, schnell auf Grenzen. Eine Synthese der gegensätzlichen Interpretationen, nach der so oft verlangt wird, ist nirgendwo in Sicht. Die Debatte hält unvermindert an und wird mit großem Nachdruck und häufig sogar mit einer Erbitterung geführt, die über eine herkömmliche Kontroverse zwischen Historikern weit hinausgeht. Lebhaft deutlich wurde dies an den Gefühlsausbrüchen, von denen 1986 der «Historikerstreit» begleitet war – eine öffentliche Kontroverse zwischen führenden deutschen Historikern über den historischen Ort des Dritten Reichs in der deutschen Geschichte.
Natürlich sind gerade Debatten und Kontroversen ein wesentlicher Bestandteil historischer Arbeit und eine Voraussetzung dafür, daß es bei der Geschichtsforschung überhaupt zu Fortschritten kommt. Der Nationalsozialismus wirft jedoch historische Interpretationsfragen auf, die eine eigene Brisanz haben oder ein bezeichnendes Licht auf weiterreichende historische Erklärungsprobleme werfen. Die besonderen Merkmale der grundlegenden Meinungsverschiedenheit der Historiker bei der Interpretation des Nationalsozialismus lassen sich meines Erachtens durch drei zwangsläufig eng miteinander verflochtene Bereiche umreißen: einen geschichtsphilosophischen, einen politisch-ideologischen und einen moralischen. Diese Bereiche sind untrennbar verbunden mit dem Forschungsgegenstand des Historikers und mit dem Verständnis, das er seiner heutigen Rolle und Aufgabe bei der Erforschung und Beschreibung des Nationalsozialismus entgegenbringt. Dies