»Auch Konflikttheoretiker hängen oft, und selbst wenn sie das Gegenteil beteuern, dem Traum einer konfliktfreien Gesellschaft an.«
Niklas Luhmann
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit anderen Menschen in einem Park. Eine Straßencombo mit Gitarre und Kongas platziert sich dort, und es erklingt beschwingte, fröhliche Musik. Was wird geschehen? Sie und die anderen werden in ihrer persönlichen Art und Weise in Resonanz gehen. Vielleicht wippen Sie mit dem Fuß, trommeln mit den Fingern oder wiegen sich leicht im Takt. Oder aber Sie werden innerlich abgelenkt, in ihren Gedanken gestört und sind genervt von der Berieselung. Wie Sie Ihre Resonanz gestalten, liegt an Ihnen selbst, aber die Musik ergreift Sie in der einen oder anderen Weise. Mehr oder weniger. So oder anders. Die Musik ruft in Ihnen Ihre »Musikperson« auf. Diese ist bei jedem anders, und doch gleichen wir Menschen uns in den grundlegenden Mustern, wie wir mit Musik in Resonanz gehen. Diese Reaktionen beeinflussen wiederum die Umwelt. Wenn alle aufstehen und tanzen oder mitsingen, wird das auf die Musik und die Musiker anders wirken, als wenn alle gelangweilt weghören. Aber keiner kann allein bestimmen, welchen Verlauf diese Szene im Park nimmt. Sie lässt sich beeinflussen, aber nicht bestimmen, weder kontrollieren noch voraussehen.
Lesen Sie in diesem Buch weiter, dann lassen Sie sich auf den Gedanken ein, dass Konflikte der Musik ähnlich sind. Was wäre, wenn Konflikte uns ebenfalls in Resonanz versetzen? Was wäre, wenn sie ein Eigenleben hätten, das wir Menschen beeinflussen, aber nicht ausmerzen oder kontrollieren können? Was wäre, wenn in Konflikten jeder nicht als Normalmensch, sondern mit seiner »Konfliktperson« an der Kommunikation teilnimmt? Was, wenn man Konflikte als untilgbares und unersetzliches Phänomen des Lebens und sozialen Miteinanders begreifen würde? Dann ginge es in Konflikten nicht darum, sie zu lösen, sondern sie in ihrer Funktion zu verstehen, sie zu gestalten, zu nutzen, zu verstärken oder zu verringern.Es wäre dann wichtig, die Fähigkeit zu haben, Konflikte zu regulieren, statt sie zu lösen. Regulieren würde bedeuten, dass man Konflikte genauso schüren wie beruhigen können muss, dass man ebenso gelassen bleiben kann wie aggressiv oder drohend. Konflikte müssten wir dann sowohl als nützlich wie als schädlich ansehen. Ebenso könnte es richtig oder falsch sein, sie anfangen oder beenden zu wollen. Konfliktvermeidung könnte dann so destruktiv sein wie Streitlust. Wenn Sie sich für diese Möglichkeiten und Gedankengänge interessieren, lohnt sich das Weiterlesen.
Ich möchte in diesem Buch ein Verständnis von sozialen Konflikten entfalten, das es ermöglicht, sie nicht zu bekämpfen – was ja auch schon wieder Konflikt wäre! –, sondern sie zu nutzen und zu gestalten. Der Traum vom ewigen Frieden, von unendlicher Harmonie und von Dauerkonsens im sozialen Bereich weicht so einer Vorstellung vom Leben in und mit Konflikten. Sozialer Frieden erscheint in einer solchen Denkart als eine spezielle, zeitbegrenzte Form der Konfliktgestaltung! Die Grundlage aller Überlegungen ist also die These, dass der Konflikt das »Gegebene« und Erwartbare ist, wohingegen Konsens, Frieden und Verständigung Zustände sind, die wir Menschen für eine gewisse Zeit, für bestimmte Themen und in einem konkreten sozialen Feld mit viel Achtsamkeit und sozialen Rahmenbedingungen erzeugen können. So gesehen hängen die persönliche Lebenszufriedenheit wie ein gedeihliches Miteinander entscheidend davon ab, in welchem Ausmaß und in welcher Form man Konflikte gestalten kann. Wird man von ihnen vereinnahmt und dominiert, dann ist das Leben angespannt, angstgetrieben und anstrengend. So läuft Konfliktkompetenz auf die Frage zu:Habe ich einen Konflikt oder hat der Konflikt mich? Dieser Fokus zieht sich von Anfang bis Ende durch das Buch.
Der Gewinn, den es hat, wenn man Konflikte als Phänomene begreift, die uns Menschen ergreifen und verändern können, ist erheblich. Man kann dann verstehen, warum man selbst und andere von jetzt auf gleich ganz anders denken, fühlen und handeln können. Wer die eigene »Konfliktperson« kennt, kann sich selbst von anderen »Zuständen«1 unterscheiden und damit anfangen, seine Möglichkeiten auszubauen, in Konflikten viel