1. Transformationen –
ein Überblick
„Demokratische Ordnungen sind nicht in Stein gemeißelt. Sie sind Fragen nach Sinn und Leistungsfähigkeit ausgesetzt. Demokratie heißt Wettbewerb um Ideen, Programme und Ziele. Deshalb wählen wir. Deutschland und Europa müssen mehr Demokratie wagen, um das Versprechen von Freiheit und Gerechtigkeit zu erfüllen. Und das Erreichte darf nicht zwischen den Fingern zerrinnen. Deutschland und Europa haben viel zu verlieren.“
(Jürgen Rüttgers)1
Bedrohte Freiheit
Als der „Kalte Krieg“ des letzten Jahrhunderts mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems endete, war Deutschland 50 Jahre geteilt. Damals, 1989/1990, hatten sich die Menschen in Osteuropa ihre Freiheit errungen. In Polen streikte die Gewerkschaft Solidarność für Freiheit und Gerechtigkeit, ihre Mitglieder kämpften im Untergrund gegen die kommunistische Diktatur und waren darin erfolgreich. Auch die ungarische Regierung öffnete den „Eisernen Vorhang“. In der Tschechoslowakei stellte sich der Schriftsteller und Dissident Václav Havel an die Spitze der demokratischen Bewegung. Die Letten, Esten und Litauer zeigten ihren Freiheitswillen in einer großen Menschenkette, an der sich mehr als eine Million Menschen beteiligten.
In Ostdeutschland trugen die Menschen Kerzen durch ihre Städte. Die kommunistische DDR-Regierung wurde gleichsam durch ein Straßenplebiszit abgewählt, sie war nicht mehr in der Lage, den Eisernen Vorhang und die Berliner Mauer, die Deutschland teilten, mit Gewalt aufrechtzuerhalten. Dies war „vielleicht […] die einzige erfolgreiche Volkserhebung der deutschen Geschichte“, schreibt Tony Judt.2
Die Idee der Freiheit hatte gesiegt. Diktaturen wandelten sich zu Demokratien, die auf den westlichen Grundwerten fußten und als Rechtsstaaten mit Gewaltenteilung sowie einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit Mitglied der Europäischen Union und der transatlantischen Verteidigungsgemeinschaft werden konnten. Dass diese große europäische Freiheitsrevolution mit dem Resultat der deutschen Wiedervereinigung friedlich stattfand und auch noch die Zustimmung aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der alliierten Siegermächte gewann – das ist das eigentlich Wunderbare.
Aber das Glücksgefühl jener Jahre ist geschwunden. Heute haben viele Menschen Angst vor der Zukunft. Sie erleben, wie sich die alte Weltordnung auflöst und das hergebrachte Gleichgewicht der Mächte schwindet. Und keiner weiß, wie die neue Ordnung der Welt sortiert sein wird.
So wie Jürgen Osterhammel für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg festgestellt hat: „Gekämpft wurde nicht für eine Verfassung, sondern um Spielräume unterschiedlicher Gesellschaftsmodelleinnerhalb einer bestehenden Verfassung“3, so kennt auch die postkommunistische Gegenwart im demokratischen Teil Europas solche Debatten: „Der W