: Jan-Dirk Müller
: Varianz - die Nibelungenfragmente Überlieferung und Poetik des Nibelungenliedes im Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit
: Walter de Gruyter GmbH& Co.KG
: 9783110983166
: Deutsche Literatur. Studien und QuellenISSN
: 1
: CHF 99.40
:
: "Deutsche Sprachwissenschaft; Deutschsprachige Literaturwissen- schaft"
: German
: 376
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB


Jan-Dirk Müller, Ludwig-Maximilians-Universitä München, Deutschland.

1 Die Ausgangslage


Abschied von Original und Archetyp


Ein Buch über die Nibelungenfragmente? Das scheint eine der letzten Nischen im sonst überforschten Bereich der Nibelungenphilologie zu sein. Die Auseinandersetzung mit den Fragmenten war lange Zeit auf punktuelle Einzeluntersuchungen beschränkt und ist erst jetzt durch das Erscheinen von Walter Koflers Ausgabe der Nibelungenfragmente in größerem Maßstab möglich geworden. Aber nicht die günstigen äußeren Umstände sind der Anlass, sondern ein Forschungsdesiderat, dessen Hindernisse jetzt endlich beseitigt sind. Es gilt nicht, einen der letztenclaims der Nibelungenforschung zu sichern, sondern eine Quellengattung zu erschließen, die die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes verändern könnte. Die Fragmente zu erforschen, war ein lange gehegtes Lieblingsprojekt, das zunächst in die Vorbereitung einer Edition der Fragmente mündete – der Kofler mit seiner Ausgabe zuvorgekommen ist –, das dann als zweiten Schritt die Untersuchung der Bedeutung der Fragmente für die Überlieferungsgeschichte und die Poetik des Nibelungenliedes vorsah. Dieser zweite Schritt wurde dann das Hauptanliegen.

Der Blick auf die Fragmente lässt viele Urteile über die Überlieferung als revisionsbedürftig erscheinen. Die Überlieferungsgeschichte war zweihundert Jahre auf die drei ältesten vollständigen Handschriften A, B und C fixiert, auf ihr Verhältnis zueinander und ihre Bedeutung für ‚den‘ Text des Nibelungenliedes. Die Forschung ist zu einem gewissen Abschluss in der Bewertung des Verhältnisses vonnot- undliet-Fassungen gekommen, von ihrem ursprünglichen Ziel, zum ‚Original‘-Text des Nibelungenliedes oder wenigstens dem ‚Archetyp‘ zu gelangen, aber weiter entfernt als zuvor. Es hat den Anschein, als seien die Möglichkeiten, weiterzukommen, ausgereizt. Deshalb soll hier versucht werden, die Überlieferung des Nibelungenliedes, aus anderer Perspektive, gewissermaßen ‚von unten‘ zu betrachten, nicht von den vollständigen ‚Haupthandschriften‘ her, die 200 Jahre lang im Zentrum der Diskussion standen und um die sämtliche Konstruktionen und Spekulationen über Entstehung, Entwicklung und Rezeption des Textes kreisten, sondern von der konkreten Gestalt des handschriftli