Einleitung:
Wo Gott war, werde Ich
»Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung […] aller Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat, in der er zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat und in die jedes Individuum seiner Art wiederum als hilfloser Säugling […] eintreten muß. All diesen Besitz darf er als Kulturerwerb ansprechen. Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden.«1
Sigmund Freud
»Gerufen oder nicht gerufen, Gott wird da sein.«
Inschrift auf Carl Gustav Jungs Grabstein
Der Tod Gottes
Wer bestimmt, was in meinem Leben passiert? Noch vor hundert Jahren hätten viele Menschen intuitiv »Gott« geantwortet. Heute lautet die Antwort: »Ich«. Der einstmals Allmächtige in Bezug auf die großen Fragen meines Lebens bin nun ich.
Die Geschichte des modernen Menschen ist die des großen Gewinns der Freiheit: Freiheit von den Fesseln der Bevormundung durch Herrschende, Kirche und Tradition. Dem modernen Zeitalter liegt das mythische Versprechen zugrunde, dass das persönliche Leben nicht davon entschieden wird, wo und von wem wir geboren werden, sondern dass wir uns von unserer Herkunft lösen können und die Chance haben, zu jenem einzigartigen Wesen zu werden, das wir sind. Als moderne Menschen entscheiden wir selbst, wohin der Weg gehen soll.
Diesen Gewinn an Freiheit bezahlen wir mit einem Verlust: Im sicheren Bett der Tradition, die uns sagte, was richtig ist und wer wir sind, können wir nicht mehr ruhen. Die Wiederholung dessen, was gestern stimmte, ist in einer Welt, deren erste Charaktereigenschaft i