1. KAPITEL
Wuäh! Wuäh! Wuähäääh!
Gerade hatte Annie Harnesberry es sich auf der Terrasse ihres neu erworbenen Reihenhauses gemütlich gemacht. Sie saß in ihrem Lieblingskorbstuhl und blätterte in der neuesten Zeitschrift für Wohnideen.
Wuäääääh!
Stirnrunzelnd blickte Annie von ihrer Lektüre auf. Zwar war sie nicht selbst Mutter, doch als Vorschullehrerin konnte man ihr eine gewisse Kompetenz, was Kindererziehung betraf, nicht absprechen. Seit sieben Jahren übte sie ihren Beruf bereits aus. Und die letzten zwei Jahre, die sie mit Conner, einem Witwer und Vater von fünf Kindern, zusammen gewesen war, hatten ihr noch so einiges an zusätzlicher Erfahrung eingebracht. Nicht nur, was Kinder anbelangt.
Wenn man bedachte, wie sehr dieser Mann sie verletzt hatte, dann konnte sie wirklich von Glück sagen, dass sie ihn los war. Der Abschied von den Kindern war ihr allerdings schwergefallen.
Die kleine Sarah war gerade mal neun Monate alt gewesen, als Conner sie und seine Zweitjüngste, die dreijährige Clara, zum ersten Mal in den Kindergarten brachte, in dem Annie damals arbeitete.
Sämtliche Betreuerinnen waren sofort hingerissen gewesen von den süßen kleinen Mädchen mit den blonden Lockenköpfen und den großen blauen Augen.
Und den Vater fanden alle mindestens ebenso beeindruckend. Auch Annie ließ sich von seinem Charme blenden und verliebte sich Hals über Kopf in ihn. Eine Zeit lang war sie tatsächlich überzeugt gewesen, dass er sie ebenfalls liebte und sie nicht nur als kostenloses Kindermädchen betrachtete.
Nachdem sie zwei Jahre mit ihm zusammengelebt und für ihn und die Kinder gesorgt hatte, kam das böse Erwachen. Am Valentinstag holte er ein Ringetui aus der Jackentasche, und Annie hielt schon den Atem an, weil sie dachte, er würde ihr gleich den Verlobungsring anstecken.
Doch stattdessen zeigte er ihr bloß den Ring, den er einer gewissen Jade schenken wollte, die seine Frau werden sollte, und fragte Annie im selben Atemzug, ob sie nicht in Zukunft als Kindermädchen bei ihnen arbeiten wolle.
Denn Jade mache sich leider so gar nichts aus Kindergeschrei und Fußgetrappel, und daher müsse er ganz schnell ein Kindermädchen finden. „Wir alle zusammen unter einem Dach, als glückliche Großfamilie. Das wäre doch toll, findest du nicht auch?“
Wuäh! Wuääääääh!
Wer ließ denn sein Kind so jämmerlich schreien? Hatten die Leute aus dem Reihenhaus gegenüber denn gar keine Ahnung, wie man mit Babys umging? Man musste doch etwas tun, um das Kind zu beruhigen. War es womöglich krank?
Annie zupfte ein verwelktes Blatt von dem Fleißigen Lieschen ab, das ihren Gartentisch zierte, dann widmete sie sich wieder dem Artikel über innovative Wandanstriche. Sie würde diese neue Technik gern in ihrem Gäste-WC in der Nische unter der Treppe ausprobieren.
Vielleicht in Weinrot?
Oder in Gold?
Irgendetwas Luxuriöses, Dekadentes musste her. Viel zu lange hatte sie zwischen langweilig gestrichenen Wänden gewohnt.
Als Kind hatte sie das Haus ihrer Großeltern geliebt, das vom Keller bis zum Dachboden in lebhaften bunten Farben gestrichen war. Im Alter von sechs Jahr