: Mariella Mehr
: Zeus oder der Zwillingston Roman
: Limmat Verlag
: 9783038552642
: 1
: CHF 17.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Neuankömmling in der Heil- und Pflegeanstalt Narrenwald, der von sich glaubt, der Göttervater Zeus selbst zu sein und behauptet, er sei auf einem geflügelten Pferd hier gelandet, ist ein gefundenes Fressen für die Anstaltsleiter Gottlob Abderhalden und Bonifazius Wasserfallen. Denn ihr Metier scheint es viel weniger zu sein, die Kranken zu heilen, als deren Geschichten zur Belustigung am Stammtisch und zur Untermauerung abstruser eugenischer Theorien zu verwenden. Nicht gerechnet haben sie mit der Wirkung von Zeus auf andere Patienten und Patientinnen, insbesondere auf die verstummte Rosa Zwiebelbuch, die ihn beim ersten Zusammentreffen gleich in die Wade beisst. Langsam kämpft sich die gemeinsame Ge-schichte der beiden in ihr Bewusstsein zurück - bis sich die Wahrheit mit aller Gewalt offenbart. In einem zornigen Spottgesang stellt Mariella Mehr die bisherigen Verhältnisse auf den Kopf: Die rassistisch begründeten Zuschreibungen und Methoden der selbsternannten Götter in weissen Kitteln werden als pseudowissenschaftliche Machtspiele entlarvt. Die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit, Dichtung und Realität verschwimmen. Und jene, die ruhiggestellt wurden, erhalten ihre Stimme zurück.

Mariella Mehr, geboren 1947 in Zürich, wuchs in Heimen, bei Pflegeeltern, in Erziehungsanstalten auf als ein Opfer des sogenannten «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse». Die Universität Basel verlieh ihr die Ehrendoktorwürde für ihr publizistisches Engagement für unterdrückte Minderheiten. Zudem erhielt Mariella Mehr den Anna-Göldi-Menschenrechtsprei . Als Schriftstellerin wurde sie u.?a. mit dem Bündner Literaturpreis, dem ProLitteris-Preis und mit dem Anerkennungspreis der Stadt Zürich gewürdigt. Mariella Mehr starb am 5. September 2022.

I.


Der Kommunikationsbedarf ergab sich für Doktor Bonifazius Wasserfallen aus der Existenz der Heil- und Pflegeanstalt insofern, als der vor ihm aufgebaute Gast ihr freiwilligster Gefangener war. Es geht nicht an, murrte Wasserfallen und riss ärgerlich die Augen auf, auch so einer wie Sie dürfte sich bei Gelegenheit zu entscheiden haben. Er nannte ihn Schlaumeier und Witzbold. Als ob derartige Tatsachen wie Zweierleis ruhig vorgetragene Erklärung, zweierlei zu sein oder zumindest gehälftet leben zu müssen, ihm selbst ein Lachen abringen könnten. Ihm, den Doktor Wasserfallen Schlaumeier nannte und Witzbold. Eine ziemlich respektlose, für ihn nicht eben schmeichelhafte Anbiederei.

Es herrschten hier, das konnte Zweierlei bereits feststellen, seltsame Bräuche. Zwei Tage waren verstrichen, seit er auf Pegasus das zweite Fenster der Südfront im dritten Stock der Krankenanstalt passierte, auf einer steinernen Amphore mit atypischer Öffnung landete, die sich später als Abtritt entpuppte, und den Ort schleunigst verliess. Der eigenen Unsterblichkeit überdrüssig, wollte er sich ihrer doch in erfreulicherer Umgebung entledigen, aber da fand sich an Erfreulichem vorerst wirklich nichts. Wärter begegneten ihm, einige rempelten ihn auch an, aber niemand schien von seinem Überdruss, ja kaum von seiner Existenz Notiz zu nehmen, bis er dann nach langem Umherirren vor Wasserfallen zu stehen kam. Das Problem wird zu lösen sein, sagte er sich. Zweierlei zu sein, wem läge solche Erfahrung näher als ihm, es war schliesslich kein Zeitvertreib. Es diene der Weltgeschichte, der hiesigen, gab er Doktor Wasserfallen zu verstehen.