»Tu es!«, drängelte ein kleines Stimmchen in ihrem Hinterkopf kurz nach dem Aufwachen.
»Okay«, murmelte Sandra, gähnte und streckte sich, blinzelte ins Morgenlicht. »Und was eigentlich?«
»Genau das«, antwortete das Stimmchen.
»Ach was. Heute, am Sonntag?«
»Jep.«
»Also gut.«
Allmählich schüttelte Sandra den Schlaf ab, ging davon aus, dass dieser Dialog ein letzter Traumrest gewesen war, der gleich verwehen würde, und kämpfte sich aus dem Bett.
»Ich meine es aber so«, hörte sie das Stimmchen erneut. Nicht in den Ohren, sondern wie zuvor im Hinterkopf.
Sandra zuckte zusammen. Jetzt war es also soweit. Sie war verrückt geworden.
»Endlich kapierst du!«
»Ich … äh … soll verrückt sein?«
»Jep.«
»Also gut.«
Sie zuckte mit den Achseln.
Damit war es wohl beschlossene Sache, an diesem Sonntag ein paar verrückte Dinge zu unternehmen.
»Verrückt« bedeutete bei ihr in erster Linie: ungeplant. Viel weiter war sie noch nicht, da ihre diesbezügliche Fantasie jämmerlich zurückgeblieben war, ein brachliegendes Feld mit einem kümmerlichen Hälmchen darauf.
Warum hörte sie überhaupt auf das Stimmchen? Warum gehorchte sie ihm, ohne nachzudenken? Dafür gab es keine Erklärung, jetzt nicht und in Zukunft wahrscheinlich auch nicht. Am naheliegendsten war wohl … aber nein, sie war nicht verrückt geworden. Sondern sie vermutete, das Stimmchen sei der personifizierte, seit Wochen herumschleichende, unausgegorene Wunsch, etwas zu verändern. Aus ihrem eintönigen – nein: faden – Leben etwas zu machen. Wahrscheinlich in dem Moment geboren, als der junge Mann an der Supermarktkasse »meine Dame« und »Sie« zu ihr gesagt hatte. Das war der offizielle Bescheid dafür gewesen, dass sie endgültig aus den Zwanzigern raus war.
Also vielleicht sollte sie auf das aufmüpfige Stimmchen hören, das sich mit dem »Sie« und »meine Dame« nicht abfinden wollte. Einmal »spontan durchgeknallt« sein, noch einmal so wie eine Zwanzigerin (»Twen«, würde ihre Oma sagen, so wurden die jungen Erwachsenen der antiken Zeiten bezeichnet), bevor sie, weil diese Aktion aufgrund Unerfahrenheit garantiert total schiefging, reumütig als Dreißigerin in den Alltagstrott zurückkehrte.
»Aber ich brauche einen Anlass!«, stellte sie fest.
»30 ½«, antwortete das Stimmchen prompt.
Weil sie damit endgültig zur »Generation 30+« gehörte und ab sofort auf jene tollen Motto-Partys zu gehen hatte, stets überladen mit verzweifelten Singles und Schlagern, die Tinnitus auslösten und die den Probelauf zum späteren Tanz-Café darstellten, für die in unsichtbar machendes Beige gekleideten »80+«. Die schlimmste Un-Farbe aller Zeiten. Schwarz war Punk und Trauer, weiß und bunt war das Einhorn, also was blieb den Alten als Erkennungszeichen ihrer Gilde, glaubten sie? Beige.
So langweilig Sandra auch sein mochte: Beige würde sie niemals tragen, nicht mit »100+«, und auch nicht, wenn Louis Vuitton draufstand. Ihr Leben mochte vielleicht so wenig ereignisreich sein, dass sie auch gleich in Rente gehen könnte, das stimmte durchaus. In der Arbeit übersah man sie, außer wenn sie »freiwillige Mehrarbeit«, sprich ohne Bezahlung, leisten sollte, weil alle anderen bei schönstem Sommerwetter zum Baden gingen. Sandra war hilfsbereit und hatte nie gelernt, »nein« zu sagen. Tief in sich drin war sie sich bewusst, dass sie sich ausnutzen ließ, doch sie war zu schüchtern, um mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Wahrscheinlich würde sie sich dabei nur den kleinen Finger brechen.
Ja, Sandra war farblos. Aber beige? Niemals!
»30 ½ … Kein toller Anlass«, murmelte sie.
»Aber verrückt«, meinte das Stimmchen.
»Weißt du was? Ich gönne mir heute e