Altmark, Anfang Oktober 1993
Dienstag
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»Dies hier ist eine Katastrophe«, empfing Dr. Elinor Martens sie schimpfend vor einem stillstehenden, bunten Karussell und wies unbestimmt mit einer Hand um sich. »Millionen Fingerabdrücke, eine völlig desolate Spurenlage, überall Kotze, Bierpfützen und so wie es riecht: reichlich Urin. Selbst Kondome finden sich, wenn man etwas genauer hinsieht. Die Spurensicherung wird ihre helle Freude haben.«
Judith Brunner musterte die Rechtsmedizinerin, die sie normalerweise gelassener empfing, besorgt. »Hallo«, grüßte sie aufmunternd. Was war geschehen und wieso hatte Elinor explizit nach ihr als Ermittlerin verlangt? »Wie schlimm ist es?«, tastete sie sich zum Anlass ihres Hierseins vor.
»Sie meinen, außer dem Dreck? Und schlimm ist nicht das korrekte Wort. Eher beunruhigend. Eine erwachsene weibliche Person. Scheinbar friedlich schlafend. Kein Blutbad, also ... Tut mir leid.« Sie senkte den Kopf und atmete tief ein.
»Elinor, was ist denn los?« Judith hatte die Frau noch nie so aufgewühlt erlebt. Sie ließ ihr einen Moment und sah sich um. Eine Anzahl Buden führten vom Eingang zunächst in einer Art Gasse zu den Fahrgeschäften und Karussells, um die sich dann ein weiterer Ring von Verkaufswagen und Ständen zog. Da, wo das Gelände an den Waldrand Richtung Osten grenzte, waren die Wohnanhänger und Campingwagen der Betreiber abgestellt. Alles war von einem der üblichen Metallzäune aus zusammengesteckten Elementen umschlossen. Über dem Platz lag eine absonderliche Ruhe, denn die Leiche war kurz vor der nachmittäglichen Öffnung des Rummels entdeckt worden und ein Kollege aus dem Streifenwagen hatte kurzentschlossen die sofortige Schließung der Anlage veranlasst. Kein plärrender Lautsprecher lockte zahlende Kundschaft an; niemand pries lautstark Vergnügen oder Gewinne an. Der Duft von frischen Vanillewaffeln mischte sich mit dem von deftig gebratenem Fleisch und Zwiebeln.
Irgendwie unschlüssig, wie sie ihr Befinden in Worte fassen sollte, kreuzte Dr. Martens die Arme schützend vor sich, so, als würde sie eine tröstende Geste brauchen. Dann sah sie entschlossen auf und sagte: »Na, was soll’s. Ich zeige Ihnen am besten den Fundort. Kommen Sie.«
Judith war gespannt. Sie blickte in Richtung Einlasstor des Rummels, sah den quergestellten Streifenwagen, der den Zugang versperrte, und folgte Elinor. Sie umrundeten ein in die Jahre gekommenes Karussell mit seinen bemalten, hölzernen Pferden und gelangten nach wenigen Metern zur unvermeidlichen Geisterbahn.
»Hier?«, fragte Judith überrascht, denn auf der Dienststelle hatte man ihr nurder Rummel auf dem Feld kurz vor Kalbe mitgeteilt, bevor sie von Knut Müller-Nordergreen, von allen nur KMN genannt, ihrem Chef, ›auf Anweisung von oben‹ losgeschickt worden war, um sich um den Leichenfund zu kümmern. Vor demHöllentor, wie der mit schmerzverzerrtem Gesicht und angstgeweiteten Augen bemalte Eingang zu dieser Rummelplatzattraktion überschrieben war, stand ein uniformierter Kollege mit strengem Gesichtsausdruck Wache. Ein zweiter wartete, Schutz vor der tiefstehenden Na