Über dem Grand Hotel schien zum ersten Mal seit einigen Wochen die Sonne und taute die letzten Schneereste weg, als Sarah Förster aus dem Fenster ihres kleinen Büros schaute. Es wurde Zeit, sich darum zu kümmern, dass für den heutigen Tag alles vorbereitet und perfekt war. Ein letzter Blick in den Spiegel. Sie strahlte sich selbst an, um sich Mut zu machen. Dann holte sie noch einmal tief Luft und trat aus dem Büro.
Sie traf auf Bernhard, der seinerseits auf dem Weg in das Büro war. „Hallo, Sarah, viel Spaß heute! Ist ganz schön was los da unten.“ Sarah lächelte ihn an und wünschte ihm einen schönen Tag. Sie mochte Bernhard, der, obwohl er als Hotelmanager zu jeder Tageszeit voll beschäftigt war, eigentlich immer freundlich grüßte und ein paar nette Worte für sie fand.
Auf ihrem Weg nach unten ins Erdgeschoss traf sie noch einige andere Mitarbeiter des Hotels. Alle grüßten freundlich mit beinahe identischen Worten:viel los heute. Ja, das konnte man so sagen.
Das Grand Hotel hatte für die nächsten fünf Tage eine der größten Musikveranstaltungen des ganzen Landes geplant. Direkt ans Hotel angeschlossen befand sich die Musikhalle, eine der modernsten und größten Konzerthallen der Neuzeit, und hier sollte dieWorld of Music, eine Art Musikmesse stattfinden. Einige der größten Musiker und Bands würden hier auftreten. Seit fünf Jahren gab es diese Veranstaltung nun schon und sie wurde jedes Jahr größer. Und Sarah hatte als Eventmanagerin die ehrenvolle Aufgabe, für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen. Das hieß im Vorfeld vor allem viel Planung und Organisation, aber jetzt, so kurz vor Beginn, ging es vor allem darum, die Hauptakteure zufriedenzustellen.
Da es sich ausschließlich um Musiker handelte, war das keine so leichte Aufgabe; Künstler hatten oft genug recht ausgefallene Wünsche. Außerdem verstanden viele dieser Musiker unter „zufriedenstellen“, dass sie mit ihnen ins Bett steigen sollte. Sarah war mit ihren siebenundzwanzig Jahren noch ziemlich jung und nicht unbedingt hässlich. Das reichte den meisten schon, um sie als Beute zu betrachten. Und auch, wenn bei dem einen oder anderen die Verlockung groß sein würde, musste sie auf jeden Fall widerstehen. Würde Sarah sich nur mit einem von ihnen einlassen und würde das irgendwie publik werden, könnte sie ihren Job vergessen. Sie würde fortan von allen nur noch als Freiwild betrachtet und jeder müsste sich und dem Rest der Welt beweisen, dass auch er es schaffen würde, sie ins Bett zu bekommen. An vernünftiges Arbeiten wäre nicht mehr zu denken. Außerdem war Sarah in dieser Hinsicht ein gebranntes Kind, auch wenn das zu ihrem Glück fast niemand wusste. Diese Geschichte blieb ihr Geheimnis.
Ihr Job war ihr wichtig. Es war der Ausgleich zu ihrem Privatleben mit ihrer kleinen Tochter Lilly. Sie liebte das Mädchen über alles und genoss jeden Moment mit ihr. Das konnte sie auch deshalb, weil sie neben Lilly noch ein erfülltes Arbeitsleben hatte, jenseits aller Mutterpflichten. Und natürlich spielte auch die finanzielle Seite eine Rolle.
Vom Erdgeschoss aus fuhr sie mit dem Fahrstuhl hinunter in den Aufenthaltsraum der VIPs, auch einfach Bar genannt, denn beherrscht wurde der Raum von einer riesigen Theke, um die sternförmig mehrere gemütliche Sitzgruppen arrangiert waren. Zu dieser Zeit war hier noch nichts los. Zwei junge Männer saßen an einem Tisch in der Ecke und hatten jeweils ein Bier vor sich stehen. Toni, der Barmann, polierte Gläser. Sarah besprach kurz mit ihm, wie viele Gäste sie heute erwarteten, ob alle Getränke vorhanden waren und diverse andere Kleinigkeiten. Danach wollte sie ein letztes Mal durch die Suiten gehen, um sicher zu sein, dass alles zu ihrer Zufriedenheit vorbereitet war. Das Grand Hotel hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Deshalb störte sich normalerweise auch niemand daran, wenn sie die Arbeit der Zimmermädchen noch einmal überprüfte. Also nahm sie wieder den Fahrstuhl nach oben zur Rezeption, um sich dort die entsprechenden Zimmerschlüssel aushändigen zu lassen.
Ein Blick zum Empfangstresen zeigte ihr, was Bernhard und die anderen gemeint hatten. Normalerweise hielten sich um diese Uhrzeit nur wenige Gäste im Bereich der Rezeption und der Lobby auf. Doch heute lungerten diverse Grüppchen von Männern und Frauen, oft mit Musikinstrumenten, auf den Sofas im