Cornwall, England, vor ca. 20 Jahren
„Da! Sie ist da hinten beim Wald!“
„Aber wie ist sie rausgekommen?“
„Ist doch egal! Los, hinterher!“
Mehr hörte Cadis nicht. Ihr Keuchen und das Pfeifen des Windes in ihren Ohren waren zu laut. Sie rannte über die nicht enden wollende Wiese, so schnell sie ihre jungen Beine trugen. Die kleine Figur in der Hand hielt sie fest umklammert. Darléne und Nigel würden sie bald eingeholt haben. Sie waren älter, schneller und zu zweit. Wenn sie ihnen entkommen wollte, würde ihr das nur im Wald gelingen.
Schweiß rann ihr den Rücken hinab, ihre Lungen brannten. Doch sie hastete weiter, ohne sich umzudrehen. Endlich erreichte sie den schützenden Wald. Das Grün des Blätterdachs schluckte viel des Tageslichts. Der Untergrund wurde weicher, das Laufen mühsamer.
Entsetzt stellte Cadis fest, dass der Wald nicht so dicht war, dass sie sich vor ihren Verfolgern verstecken konnte. Ihr blieb nur eine Wahl: Sie musste die Laufwege verlassen.
Es machte ihr Angst, doch sie stellte sich vor, dass es wie in einer ihrer Geschichten war, in denen sie mutig den Dschungel durchquerte.
Im Unterholz knackte und raschelte es bei jedem Schritt geradezu ohrenbetäubend.
„Schhht“, flehte Cadis verzweifelt, aber es half nichts. Als sie Stimmen hörte, erstarrte sie. Möglichst ruhig duckte sie sich hinter einen Baum und betete. Die Hitze strahlte von ihrem Körper ab, ihre Atmung hatte sich kaum beruhigt, ihr Herzchen pochte wie wild und das Blut rauschte in ihren Ohren.
„Wo ist sie?“, rief Nigel und Cadis zuckte zusammen. Sie waren schon zu nah.
„Sie muss in der Nähe sein. Wie kann man beim Laufen nur so viel Krach machen?“
Plötzlich ertönte ein aufgeschrecktes Rascheln, gefolgt vom Geräusch zerbrechender Äste und einem rhythmischen Klopfen, das rasch näherkam.
Rehe.
Cadis gefror das Blut in den Adern. Es kam selten vor, aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass die sonst so scheuen Tiere unter bestimmten Umständen äußerst aggressiv sein konnten und auch angriffen.
Im selben Moment sprangen ihr die Rehe bereits entgegen. Ein spitzer Schrei entschlüpfte ihrer Kehle, ehe sie herumfuhr und um ihr Leben rannte.
In Panik kletterte sie eine Böschung hinauf, geriet ins Stolpern und fiel auf der anderen Seite hinunter. Die Blätter federten ihren Sturz ab. Doch die morschen Äste auf dem Boden verdroschen sie wie mit einem Knüppel. Schmerzen bohrten sich stechend in Arme, Rippen, Hüfte und Beine. Die kleine Figur aus ihrer Hand hatte sie verloren, aber das war gerade nicht mehr wichtig. Cadis biss die Zähne zusammen, rappelte sich auf und rannte weiter, quer durch den Wald, durch Dornenbüsche und über umgestürzte Bäume.
Immer wieder vertrat sie sich und fiel hin, doch kein Schmerz und keine Wunde hinderte sie am Weiterlaufen. Sie floh, bis sie nach einem erneuten Sturz nicht mehr aufstehen konnte und um Luft ringend liegenblieb. Es hatte keinen Sinn mehr. Wenn sie nun überrannt werden würde, wäre das ihr Schicksal. Sie lauschte angestrengt, aber das Getrappel der Rehhufe war verklungen. Erleichtert betrachtete sie die Kronen der mächtigen Bäume, die sie umgaben. Kleine Punkte flirrten über ihr Sichtfeld.
Je weiter sich ihr Atem verlangsamte, desto deutlicher spürte sie die Schmerzen in ihrem Körper, das Brennen von Schürfwunden und Rissen. Sie wollte nicht wissen, wie ihre Kleidung aussah. Sollte sie je wieder nach Hause finden, würde ihre Mutter sie gehörig schelten.
Nach Hause. Schwerfällig setzte sie sich auf und sah sich um. Wie kam sie nach Hause? Langsam stellte sie sich auf ihre zitternden Beine. Gerade, als sie den ersten Schritt wagte, trat sie gegen etwas ungewöhnlich Hartes. Es war definitiv nichts, was sich normalerweise auf dem Waldboden befand. Cadis bückte sich, um genauer zu erkennen, was sich unter den vermodernden Blättern verbarg.
Schienen.
„Was hat das zu bedeuten?“ Ihr Herz machte einen aufgeregten Hüpfer. Sie nahm einen langen Stock, mit dem sie die Schienen ertasten konnte, und folgte ihnen. Sowohl ihre Erholung als auch die Suche nach dem Heimweg mussten vor ihrer Abenteuerlust kapitulieren.
Schon sehr bald verlor der Wald an Dichte. Immer breiter öffnete sich das Blätterdach und gab den Blick auf den grauen Himmel preis. Die Blätter, die die Schienen bedeckten, wurden ebenfalls weniger, bis das rostig-rote Metall schließlich frei lag.
Ein gleichmäßiges Rauschen, das zwischen den Baumstämmen hindurch glitt, ließ sie wissen, dass sie sich in unmittelbarer Nähe der Küste befand. In diesem Teil des Waldes war sie noch nie gewesen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass der Wald bis ans Meer reichte. Ehrfürchtig schritt sie weiter voran, bis sie in der Ferne etwas entdeckte. Es sah aus wie eine Wand oder eine Mauer. War es vielleicht ein Gebäude? Ih