1. KAPITEL
„Die Weihnachtszeit fängt auch jedes Jahr früher an“, dachte Miranda Steele, als sie auf der Haupteinkaufsstraße im Stau stand und die vielen, mit Einkaufstüten vollbepackten Passanten beobachtete.
Nicht dass sie das stören würde. Weihnachten war eigentlich ihre liebste Zeit im Jahr. Wenn andere nörgelten, dass die Geschäfte schon im Oktober festlich geschmückt wurden, um den Umsatz zu steigern, sah sie darin die Möglichkeit, länger in Weihnachtsstimmung zu sein.
In Momenten wie diesen wurde aber selbst ihr die damit verbundene Hektik zu viel. Sie kam gerade von einer Zehn-Stunden-Schicht im Krankenhaus, zu der sie auch noch eine Stunde früher erschienen war, um die Kinderkrebsstation, auf der sie arbeitete, weihnachtlich zu dekorieren. Das war ihr besonders wichtig, weil sie wusste, dass es für einige der Kinder das letzte Weihnachtsfest sein würde.
Doch auch wenn diese Tatsache traurig und manchmal schwer zu verdauen war, konzentrierte sich Miranda stets auf das Positive. In diesem Fall war das, den Kindern und ihren Familien das beste Weihnachten zu bescheren, das unter diesen Umständen möglich war.
Jeder andere wäre nach einem solchen Tag auf dem Heimweg und würde sich auf ein wohlverdientes, ausgiebiges Schaumbad freuen. Doch dafür hatte Miranda keine Zeit, auch wenn sie sich danach sehnte. Sie musste noch zu Lilys Geburtstagsfeier.
Lily Hayden wurde heute acht. Sie war eines der vielen Kinder, die mit ihren Müttern im Frauenhaus von Bedford lebten, in dem Miranda vier Tage die Woche ehrenamtlich aushalf.
Die restlichen zwei oder drei Feierabende verbracht sie im örtlichen Tierheim, wo sie sich um herrenlose Hunde und Katzen – und manchmal Kaninchen – kümmerte. Sie hatte eben ein Herz für alle Ausgestoßenen und Heimatlosen, ob sie nun zwei oder vier Beine hatten.
Für sie war ihr Tag allerdings einfach nicht lang genug, um all diesen armen Wesen zu helfen. Nervös blickte sie auf die Uhr am Armaturenbrett ihres Autos. Auf keinen Fall durfte sie zu spät kommen.
„Wenn ich nicht rechtzeitig mit diesem Kuchen auftauche, wird Lily denken, dass ich sie völlig vergessen habe. Genau wie ihre Mom“, murmelte Miranda.
Lilys Mutter hatte vor zwei Tagen ihre Tochter im Frauenhaus zurückgelassen, um auf Arbeitssuche zu gehen. Keiner hatte seitdem wieder etwas von ihr gehört. Und so langsam machte Miranda sich Sorgen, dass Gina Hayden einfach alles zu viel geworden war und sie sich abgesetzt hatte mit der Ausrede, ihr kleines Mädchen wäre ohne sie besser dran.
Als der Stau sich endlich auflöste, trat Miranda das Gaspedal durch und bog an der nächsten Ecke scharf rechts ab, wobei sie mit der rechten Hand die Kuchenschachtel auf dem Beifahrersitz festhielt. Da sie nur daran dachte, nicht zu spät zum Frauenhaus zu kommen, bemerkte sie die rot-blauen Lichtsignale hinter ihr nicht, bis sie den schrillen Ton der Sirene hörte und ihr der Schreck in die Glieder fuhr.
Verflixt, wieso ausgerechnet heute? dachte sie, als sie ergeben rechts ranfuhr. Ihre rebellische Ader ließ sie kurz mit dem Gedanken spielen, erneut Gas zu geben und der Polizeistreife einfach davonzurasen.
Allerdings saß der Hüter des Gesetzes auf einem schweren Motorrad, und ihr Auto war fünfzehn Jahre alt und nicht in Bestform. Eine Verfolgungsjagd würde sie damit eher nicht für sich entscheiden.
Also seufzte sie nur und wartete brav auf ihren Strafzettel.
Das hier war nicht Colins übliche Streife. Er musste in den nächsten Wochen einen Kollegen vertreten, aber das war ihm egal. Für Colin war eine Route so gut wie jede andere. Immerhin wurde er in Bedford von den Leuten höchstens mal mit bösen Blicken