Es ist genug! – Vorwort von Ruth
Meine Tochter ist gerade achtzehn geworden. Sie und ihr Freund gehen in einen Club – mit weiteren Freunden. Als meine Tochter mit einem der anderen Jungen spricht, schubst ihr Freund sie plötzlich brutal an die Wand und schreit sie an, warum sie sich mit einem anderen unterhält.
Partnerschaftliche Gewalt geschieht oft aus dem Nichts. Sie kennt keine Altersgrenzen. Sie ist unabhängig von Status, Beruf oder finanziellem Background.
Ein Vorfall wie dieser, der meiner Tochter widerfahren ist, ist typisch für eine von Anfang an problematische Beziehung. Der junge Mann Anfang zwanzig hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Ahnung davon, was ihn in diesem Moment im Club genau geritten hatte oder wie er mit seinen eigenen Gefühlen von Unsicherheit oder Eifersucht umgehen sollte. Ziemlich sicher verfolgte er keine böse Absicht. Es tat ihm tatsächlich im Anschluss sogar unfassbar leid. Aber er hatte auch keine Idee,wie er an sich oder seinem Verhalten mit Erfolg hätte arbeiten können. Meine Tochter hat nach dem Vorfall sofort die Beziehung beendet. Und das war aus meiner Sicht auch gut so.
Dieses Beispiel, das sich bereits im Anfangsstadium einer Liebesbeziehung zugetragen hat, zeigt mir, Ruth, wo wir gesellschaftlich und als Eltern dringend anpacken müssen. Nämlich an den ThemenGefühlskompetenz, Selbstwert undBeziehungskompetenz – schon ab dem Kindergartenalter. Es betrifft alle, Mädchen, Jungen, binäre wie non-binäre Menschen. Wir lernen so vieles in der Schule – aber das Schulfach »Leben« mit Lektionen wie »Gefühle aushalten und verwandeln« fehlt völlig. Die Folge:
Wir können oft nur durch Versuch und Irrtum, durch Ausprobieren und Hinfallen lernen, wie nährende Beziehungen gelingen.
Als Erwachsene finden wir vielleicht den Weg in Paarseminare oder zu Therapeuten – aber oft haben wir bis dahin schon viele Wunden aus gescheiterten Liebesbeziehungen davongetragen. Mit Narben, die oft dazu führen, dass wir uns für eine tiefe und verbindende Partnerschaft nicht mehr wirklich öffnen können.
Wäre es nicht viel einfacher, wenn wir schon früh über unsere Emotionen Bescheid wissen? Wenn wir gelernt hätten, dass es möglich ist, unangenehme Gefühle auszuhalten, statt sie durch Streit oder Gewalt in unseren kostbarsten Beziehungen auszuagieren? Wie viel schöner wäre es, offene Gespräche ohne Bewertung über unser Seelenleben führen zu können, voller Liebe und Hinwendung. Unsere Welt wäre um so vieles friedvoller.
In Deutschland und Europa, weltweit, gibt es Frauen, die mindestens einmal in ihrem Leben männliche Gewalt erlebt haben. Verbal, körperlich, psychisch. Und so viele verharren in Beziehungen, die ihnen nicht guttun. Sie ignorieren die leise, aber zunehmend lauter werdende Stimme, wenden sich von ihrem Umfeld ab, das viel früher merkt, dass das Lächeln, das früher immer da war, viel zu oft verschwunden ist, bis es schließlich völlig fehlt.
Frag dich selbst: Lächelst du innerlich, wenn du an deine Beziehung denkst? Oder ist da dieses leise Gefühl?
Es beginnt meistens langsam. Doch die Bandbreite einer ungesunden Beziehung ist groß. Viele Frauen und Mädchen werden bevormundet, unterdrückt, kontrolliert, bewacht oder eingesperrt. Und auch wenn wir das nicht gern sagen, wenn wir nicht gern hinsehen: Es passiert immer noch und zu oft, dass Frauen Gewalt erleiden, psychisch und physisch, dass sie vergewaltigt, zwangsverheiratet, geschlagen, sogar verstümmelt und getötet werden. Warum? Allein aufgrund ihres Geschlechts. Aufgrund alter erlernter patriarchalischer Strukturen.
Mit diesem Buch wollen wir laut werden. Für dich. Mit dir.
Für uns alle.
Es wird Zeit für eine Veränderung. Es wird Zeit für eine Beziehung, in der keine Angst vor männlicher Übermacht herrscht. Es ist Zeit für das Ende von Unterdrückung oder Ungleichbehandlung von Mädchen und Frauen.
Diese Zeit ist längst mehr als reif für ein allgemeines Bewusstsein darüber, wie wir durch eigene Veränderung und Eigenverantwortung aus destruktiven Strukturen ausbrechen können und liebevolle und achtsame Verbindungen in all unseren Beziehungen aktiv gestalten können. Damit unsere Welt gesunden kann. Damit wir alle heilen können.
Deswegen wagen wir es in diesem Buch, schon auf kleine erste Anzeichen aufmerksam zu machen.
Und wir wollen dich ermutigen, dem oft Unaussprechlichen in toxischen Beziehungen von Anfang an einen Namen zu geben. Wir richten ein Licht auf das, was uns schwächt, und gleichzeitig so selbstverständlich und gewohnt erscheint, dass es uns im Alltag schon gar nicht mehr auffällt.
In Beziehungen, die toxische Elemente enthalten, geht der Prozess derUnterdrückung, Demütigung, Abwertung undBeleidigung schleichend vor sich. So berichten e