Einleitung
»Hühner wurden bisher als Studien- und Beobachtungsobjekte unterschätzt. Unbedeutende, für uns eigentlich wertlose exotische Wildtiere (…) werden von gebildeten, talentierten Menschen mit respektvoller Aufmerksamkeit bedacht. Sie werden einbalsamiert, in Museen als Schätze aufbewahrt und von Künstlern porträtiert. Aber diese Geschöpfe, in ihrer Schönheit nur wenigen auf der Erde unterlegen, nützlich, umgänglich und von großem wirtschaftlichem Wert, werden prompt vernachlässigt und missachtet.«1 So beklagte Reverend Edmund Saul Dixon schon im Jahr 1851 die mangelnde Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Kunst gegenüber dem Haushuhn. Der britische Pastor schrieb Bücher, in denen er seine Leserschaft für die eigenen Leidenschaften, nämlich Haus- und Ziergeflügel, Ornithologie und Hobbygärtnerei, begeistern wollte.2 Heute, rund 170 Jahre später, scheint der Respekt der Menschheit vor dem Haushuhn, dem inzwischen häufigsten Landwirbeltier der Erde, noch mehr in Vergessenheit geraten zu sein. Zwar entwickelte sich das wissenschaftliche Interesse am Geflügel vor etwa achtzig Jahren erst sehr spät, dafür aber dramatisch, als der Weg für die industrielle Hühnerhaltung geebnet wurde. Auf jeden Menschen kommen heute vier Hühner, doch der Großteil von ihnen verbringt sein Leben unter – gelinde gesagt – unwürdigen Verhältnissen.
Die Ernährung des Huhns war bis in die 1940er-Jahre so gut wie nicht erforscht worden. Zwar war Hausgeflügel längst allgegenwärtig, doch musste es sich meist mit dem zufriedengeben, was es in Hof und Garten fand.3 Aufgrund der geringen Größe und Anspruchslosigkeit der Hühner, die sich schnell und von den Jahreszeiten unabhängig vermehren ließen, erkannte man schließlich in der Not des Zweiten Weltkriegs ihre Eignung, die Massen in großem Stil zu ernähren.4 Und so begann man mithilfe von vielen Tausenden Studien, diversen, teilweise kuriosen Futterversuchen und der Schaffung neuer Zuchtstämme moderne Hochleistungstiere zu kreieren, die auf geringem Raum in kurzer Zeit und mit minimalem finanziellem Aufwand – je nach Zuchtlinie – Eier und Fleisch liefern konnten.5 Und auch heute ist für den Großteil der weltweit rund 33 Milliarden Hühner6 von der bewegten gemeinsamen Geschichte mit uns, der stetig wachsenden Spezies Mensch, nur eines zu spüren: unser enormer Hunger.
Hunger war hingegen bei dem Entschluss meiner Familie, eigene Hühner zu halten, nicht primär entscheidend. Als wir uns vor einigen Jahren dazu entschlossen, auf unserem kleinen Hof mit Schafen, Ziegen, Katzen, Hunden und Hängebauchschweinen auch noch Hühner aufzunehmen, geschah dies eher als logische Konsequenz auf die unzähligen Nachfragen unserer Bekannten und Freunde. Ein Hof ohne Hühner ist nicht komplett. Unsere Hoftiere halten wir aus reiner Liebhaberei. Keines wurde jemals seiner Milch oder Wolle wegen »genutzt« und schon gar nicht geschlachtet. Mit großem Interesse beobachten wir unsere Tiere. Und dass sie unsere Wiese kurz halten, ist bereits Berechtigung genug, um bei und mit uns in Ruhe leben und altern zu dürfen.
Reverend Dixon hätte zum damaligen Zeitpunkt dennoch allen Grund gehabt, mich zu schelten, war ich doch bis dato auch völlig unbeeindruckt von allen Hühnern, denen ich jemals begegnet war, durchs Leben gegangen. Selbst als mein Hund, seinem Trieb erliegend, das Huhn eines Bauern getötet hatte, empfand ich für den Vogel zwar Bedauern, doch war es mir bei Weitem nicht so nahegegangen wie der Tod anderer Tiere. Ich hätte auch kaum ein Huhn genauer beschreiben können, denn meine mangelnde Aufmerksamkeit erlaubte mir maximal, mich an seine Gefiederfarbe zu erinnern. Über alles andere hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes hinweggesehen.
Mehr auf den Wunsch meines Mannes als auf meinen, die ich normalerweise die treibende Kraft bei der Anschaffung neuer Tiere bin, holten wir uns schließlich ein paar Zwerghühner in den Garten, die ein neues Zuhause gesucht hatten. Meine große Begeisterung erweckten diese kleinen, ganz und gar nicht nahbaren, aber wunderschönen Tiere noch nicht. Doch erkannte ich schnell, dass ich die emotionale Komponente der Hühnerhaltung unterschätzt hatte. Denn bereits das erste Ei, das ich im Nest fand, ließ mein Herz höherschlagen. Auch bemerkte ich, dass das Krähen des kleinen Hahns, obwohl dieses es im morgendlichen Vogelkonzert kaum mit dem Gesang der Amseln aufnehmen konnte, mich dennoch entzückte. Als der leise Sänger beim Übersiedeln von seiner versteckten Lage hinter einem Nebengebäude in ein neues, repräsentativeres Gehege einen mysteriösen Tod starb, beschlossen wir, es nun mit großen, sozusagen »richtigen« Hühn