I. TEIL
Die Vorsokratiker
1. KAPITEL
Der Aufschwung der griechischen Kultur
In der ganzen Weltgeschichte ist nichts so überraschend oder so schwer erklärlich wie das plötzliche Aufblühen der Kultur in Griechenland. Vieles, was zum Begriff der Kultur gehört, hatte es schon Jahrtausende zuvor in Ägypten und Mesopotamien gegeben; seither hatte es sich in den benachbarten Ländern ausgebreitet. Aber gewisse, bislang fehlende Elemente trugen erst die Griechen dazu bei. Was sie im Reich der Kunst und Literatur geschaffen haben, ist allgemein bekannt; was sie jedoch auf dem Gebiet des reinen Denkens leisteten, ist ganz einzigartig. Sie erfanden die Mathematik1, die Naturwissenschaft und die Philosophie; sie schrieben zum erstenmal Geschichte anstelle bloßer Annalen; frei von überkommenen orthodoxen Anschauungen stellten sie Betrachtungen an über das Wesen der Welt und den Sinn des Lebens. Das Ergebnis war so verblüffend, daß sich die Menschen bis in die jüngste Zeit hinein damit begnügten, zu staunen und sich in mystischen Reden über den griechischen Genius zu ergehen. Es ist jedoch möglich, die Entwicklung Griechenlands in wissenschaftlichen Begriffen zu verstehen, und überdies ist es durchaus der Mühe wert.
Die Philosophie beginnt mit Thales; er ist glücklicherweise zeitlich zu bestimmen, weil er eine Mondfinsternis voraussagte, die nach Angabe der Astronomen in das Jahr 585 v. Chr. fiel. Philosophie und Wissenschaft – ursprünglich nicht voneinander getrennt – entstanden demnach gemeinsam zu Beginn des sechsten Jahrhunderts. Was hatte sich in Griechenland und den angrenzenden Ländern vor diesem Zeitpunkt zugetragen? Jede Antwort wird sich zumindest teilweise auf Mutmaßungen stützen; dank der Archäologie wissen wir jedoch im gegenwärtigen Jahrhundert bedeutend mehr davon als unsere Großväter.
Die Schreibkunst wurde in Ägypten um das Jahr 4000 v. Chr., in Mesopotamien wenig später erfunden. In beiden Ländern begann man zu schreiben, indem man bildlich darstellte, was es auszudrücken galt. Diese Zeichen wurden bald so gebräuchlich, daß Worte durch Ideogramme wiedergegeben wurden, wie es heute noch in China geschieht. Im Laufe von Jahrtausenden entwickelte sich dieses schwerfällige System zur alphabetischen Schrift.
Ägypten und Mesopotamien verdankten die frühe Entfaltung ihrer Kultur dem Nil, dem Tigris und Euphrat, die den Ackerbau sehr erleichterten und ertragreich machten. Die Kultur ähnelte in vieler Hinsicht der, welche die Spanier in Mexiko und Peru vorfanden. Da gab es einen göttlichen, mit despotischen Machtbefugnissen ausgestatteten König; in Ägypten gehörte ihm das ganze Land. Es gab eine polytheistische Religion mit einem höchsten Gott, zu dem der König in besonders enger Beziehung stand. Es gab eine Militär-Aristokratie und daneben eine Priester-Aristokratie. Diese Kaste maßte sich oftmals Eingriffe in die Rechte des Königs an, wenn der König schwach oder in einen schwierigen Krieg verwickelt war. Der Boden wurde von Sklaven bearbeitet, die Leibeigene des Königs, der Aristokratie oder der Priesterschaft waren.
Zwischen der ägyptischen und der babylonischen Religi