Schweigen. Von Tina habe ich als Erstes ein Schweigen gehört. Sie war eines Morgens im Radio eingeladen, um Werbung für ihr Theaterstück zu machen, der Moderator hatte sie gerade gefragt, ob das Theater die Wirklichkeit nur abbilde oder ob es sie transzendiere, um etwas Universelles zu erreichen, eine Frage, auf die man meistens nur eine abgedroschene Antwort erhält – nicht so bei Tina, die beschlossen hatte,wirklich darüber nachzudenken, als würde sie innerlich jedes ihrer Worte abwägen.
Ergebnis: Stille, eine lange Stille, die der Moderator füllte, so gut er konnte, indem er noch mal die Uhrzeit sagte (9:17 Uhr), den Namen des Senders und den seines Gastes, ihr Alter (achtundzwanzig), ihren Beruf (Schauspielerin), dann den Titel des Stückes(Zweieinhalb Tage in Stuttgart), in dem sie eine Hauptrolle spielte und das ihr eine Molière-Nominierung eingebracht hatte (als beste Nachwuchsdarstellerin), und schließlich, worum es darin ging (die letzte Begegnung zwischen Verlaine und Rimbaud, die zweieinhalb Tage, die sie im Februar 1875 zusammen in Stuttgart verbracht hatten), bevor er seine Frage anders formulierte (also, das Theater – Mimikry oder Mimesis?).
Ich war zu Hause, im Bad, das Radio stand auf der Waschmaschine, ich putzte mir die Zähne und konnte deutlich das Reiben der Borsten auf dem Zahnschmelz hören, ich konnte hören, wie der dünne Wasserstrahl rann und vor allem, vor allem Tinas Schweigen, ja, ich hörte Tinas Schweigen, und ich dachte, man sollte eine Typologie des Schweigen