: Hans Frey
: Vision und Verfall Deutsche Science Fiction in der DDR
: Memoranda Verlag
: 9783948616830
: 1
: CHF 7.00
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: Literatur: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In VISION UND VERFALL analysiert Laßwitz-Preisträger Hans Frey die Science Fiction der DDR. Unterhaltsam und ohne jede Besserwisserei führt er durch eine untergegangene Welt und enthüllt einen weitgehend unbekannten Erzählkosmos. Selbst diejenigen, die schon Kenntnisse haben, werden Überraschungen erleben. Der Autor nähert sich nicht nur dem Kern der DDR-SF, sondern er vermag auch Erstaunliches über ihre Entwicklungsgeschichte zu berichten. Reproduziert eine Diktatur in der Regel stets dieselben Klischees, so kommt der Autor in diesem Fall zu einem anderen, verblüffenden Ergebnis. Statt Stasis entfaltete sich eine von der Obrigkeit ungewollte Evolution. Wie das möglich wurde, wird anhand von Hintergründen, Strukturen, Personen, Werkbeschreibungen, seltenen Illustrationen und einem ausführlichen Literaturverzeichnis spannend belegt. Diese Art der SF, so Frey, hat es nur in der DDR gegeben. Wer an deutscher Literatur interessiert ist, dem erschließt das Buch neue und ungeahnte Erkenntnisse.

Hans Frey, Germanist, Lehrer, Ex-NRW-Landtagsabgeordneter, Ruhrgebietsfan und Büchernarr, nutzt seit einigen Jahren den sogenannten Ruhestand, um seine alte Vorliebe für die Science Fiction publizistisch aufzuarbeiten. Zu den Ergebnissen gehören unter anderem die umfangreiche Monographie 'Der galaktische Voltaire - Die Welten des Isaac Asimov', das Sachbuch 'Philosophie und Science Fiction' und drei Ausgaben der Reihe SF PERSONALITY: 'Alfred Bester - Tycoon der Science Fiction', 'J. G. Ballard - Science Fiction als Paradoxon' und 'James Tiptree Jr. - Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod' und natürlich die ersten drei Bände der Geschichte der deutschen Science Fiction: 'Fortschritt und Fiasko' (1810-1918), 'Aufbruch in den Abgrund' (1918-1945) und 'Optimismus und Overkill' (1945-1968). Hans Frey wurde 2021 für seine Sachbücher zur Geschichte der deutschsprachigen Science Fiction 'Fortschritt und Fiasko' und 'Aufbruch in den Abgrund' mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet.

1.4. Ein Schlüsselroman: Von Träumen und Albträumen

Wie in der allgemeinen Belletristik gibt es in der SF zuweilen Schlüsselromane, in denen sich wie in einem Brennglas historische Epochen mythisch-metaphorisch bündeln. Für die Weimarer Republik hatte ich in diesem Sinn die SF-RomaneUtopolis (1931) von Werner Illing undMetropolis (1926) von Thea von Harbou ausgemacht und sie als Prolog dem zweiten Band vorangestellt (F2, S. 14 ff.). Eine ähnliche Rolle spreche ich dem RomanDer Traummeister (1990) von Angela und Karlheinz Steinmüller für die DDR zu. Er dient deshalb als Prolog zum vorliegenden vierten Band der Reihe.

Verpasste Chance

Leider umgibt die Editionsgeschichte des Werks eine gewisse Tragik, die kurz erläutert werden soll. Es wäre durchaus möglich gewesen, dassDer Traummeister bereits 1988 hätte erscheinen können. Tatsächlich kam er 1990 auf den Markt, zu einer Zeit also, als die DDR faktisch schon Geschichte war und die Buchläden sturzflutartig mit West-SF überschwemmt wurden. Zu allem Verdruss waren es auch noch Banalitäten z. B. hatte der Grafiker die Abgabe von Farbtafeln für das Buch verbummelt, auf die der Verlag wartete , die die folgenschwere Verzögerung verursachten. Durch die verspätete Veröffentlichung verpasste das Buch einen neuralgischen Moment der Geschichte. 1988 wäre der Titel in der noch bestehenden DDR wahrscheinlich zur Sensation geworden, die eine große Nachfrage ausgelöst hätte. 1990 hatte sich der Wind gedreht. Das wankelmütige Publikum reagierte plötzlich auf ganz andere Anreize, und der Verlag blieb auf einem Großteil der Auflage sitzen.Der Traummeister versank im Meer der von heute auf morgen möglich gewordenen Wahlfreiheiten. Wahlfreiheiten sind natürlich gut. Die traurige Folge war nur, dass hervorragende Werke wieDerTraummeister nicht mehr die ihnen gebührende Wertschätzung erfuhren.

Interpretation

Grundlage meiner Besprechung ist der Band 4 (2020) der von Erik Simon herausgegebenen Steinmüller-Werkausgabe im Memoranda Verlag. Gegenüber der Erstausgabe von 1990 fügte das Autorenduo dem Text ein endgültiges Schlusskapitel hinzu. Weitere Anhangtexte sowie eine Karte der fiktiven Stadt Miscara ergänzen das Buch. Insgesamt istDer Traummeister eingebettet in einen in sich zusammenhängenden Erzählkosmos, der weitere Bände und Storys umfasst. Einen ausgezeichneten Überblick bietet Erik Simons Aufsatz »Das Steinmüller-Universum« (in:Das Science Fiction Jahr 2019).

Der Traummeister

Vor tausend Jahren wurde der Planet Spera von hoch technisierten Abgesandten der Erde besiedelt (die Miscarer nennen sie»dieGroßenAlten«). Die Vorgeschichte wird im Band 3 der genannten Werkausgabe mit dem TitelSpera (erstmals 2004 bei Shayol, Neufassung 2018 beim Golkonda-Imprint Memoranda) erzählt. Sie fächert in Einzelerzählungen die Geschichte der irdischen Kolonie auf. Demnach fallen die Kolonisten im Laufe der ersten Jahrhunderte in die Barbarei zurück, um dann eine dem europäischen Mittelalter ähnelnde Entwicklungsstufe zu erreichen.

An den Ereignissen in der unabhängigen Stadtrepublik Miscara, die von einem aus Patriziern bestehenden Rat regiert wird, schildern die Autoren den Versuch, wieder den Sprung in eine technisch-industrielle Zivilisation zu schaffen. Eine ganz und gar ungewöhnliche, ja phantastische Methode soll Miscara dabei helfen. Sogenannte Traummeister versorgen nachts die Bevölkerung mit motivierenden, anstachelnden und zukunftsweisenden Träumen, die ihr tagsüber die Kraft geben, eine entbehrungsreiche Aufbauarbeit zu leisten. Das Wirken der Traummeister bedeutet indes, dass die Menschen das eigenständige Träumen verlernen. Schließlich wird das Träumen sogar ganz abgeschafft, da es, so die Doktrin, überflüssig geworden sei. Der Traummeister Nerev hat