Die besorgte Lady – Christoph Heiden
Nun, mein lieber Watson?«, durchbrach Sherlock Holmes sein frostiges Schweigen. »Was erhoffen Sie sich von einem Besuch bei diesem Schreiberling?«
Wir befanden uns in einem Zugabteil auf dem Weg nach Guildford, Grafschaft Surrey. Holmes saß mir gegenüber, gekleidet in einen Leinenanzug, die Beine übereinandergeschlagen und denChronicle vor Augen. Allein seine Betonung des WortesSchreiberling gemahnte mich, seine Laune nicht falsch einzuschätzen. Seit Tagen hatte das Wechselspiel von Lethargie und Ehrgeiz, das sonst das Leben meines Freundes bestimmte, einen klaren Favoriten offenbart: Eingekeilt in seinem Sessel, den Unterarm zerstochen, war er weder zu Gesprächen noch zur Nahrungsaufnahme willens gewesen. Mit einer Mischung aus Fürsorge und beharrlicher Penetranz hatte ich ihn schließlich dazu überreden können, mich aufs Land zu begleiten.
»Ich hoffe auf ein paar Einblicke in das Leben eines anderen Schriftstellers«, äußerte ich vorsichtig. »Dessen Heim und Wirkstätte dürften sich als inspirierend erweisen.«
Holmes lugte über seine Zeitung hinweg. »Sind Sie der Baker Street überdrüssig?«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Ah, verstehe. Ihnen genügen unsere kleinen Abenteuer nicht mehr; Sie wollen der Kriminalistik abschwören?«
»Das Leben besteht nicht nur aus Mord und Totschlag.«
»Mein lieber Watson, Sie entwickeln sich zu einem wahren Freigeist.«
Ich war nicht zu deuten imstande, ob aus seiner Erwiderung ein Lob, Desinteresse oder gar böser Sarkasmus sprach. Er tauchte hinter die Zeitung und seine dürren Finger krampften sich um das Papier, als läse er für ihn reservierte Hiobsbotschaften. Aber dem war nicht so, keinesfalls. Vielmehr quälten Tatenlosigkeit und Überdruss sein Gemüt.
»Sie können die Zeitung von den Schlagzeilen bis hin zum Kleingedruckten studieren«, gab ich zu bedenken. »Aber Sie werden nichts aufstöbern, was Ihren Geist stimuliert. Erfreuen Sie sich lieber an der Landschaft.«
Mit einem Nicken wies ich zum Fenster hinaus – auf das krautige Heideland, das sich über Hügel und Senken dehnte, bisweilen gesprenkelt mit Inseln leuchtend grüner Bäume, und nicht zuletzt die herrliche Morgensonne, die uns einen Tag fern der Londoner Tristesse versprach. Meine Gedanken drohten sich unter dem monotonen Geratter des Zuges zu verlieren, hätte Holmes mir nicht seine trübe Realität aufgezwungen.
»Watson, eine Welt ohne Verbrechen existiert nicht. Weder im antiken Griechenland noch unter Queen Victorias Krone.«
»Haben Sie schon erwogen, jemanden mit der Erschaffung eines Rätsels zu betrauen?«
Er lachte humorlos auf. »Eine solche Idee kann nur einer Dichterseele entspringen. Hoffentlich ist es Ihr Poeticus auch we