Graubünden – Alpsommer1953
Die verwitterte Holztür der Alphütte stand an jenem Sonntagmorgen im August weit offen. Jemand war soeben auf der Alp Altsäss aus dem gedrungenen Steinbau geflohen; schnelle Schritte, dann Stille.
Das viele Brennholz unter dem Vordach war ordentlich gestapelt. Hinter der wehrhaften Hütte plätscherte munter der Brunnen. Glasklar und kalt sprudelte das Quellwasser und bildete verspielt Luftblasen im steinernen Trog. Die Milchkessel standen seit dem Melken noch immer ungewaschen vor dem Brunnen, fette Fliegen stoben immer wieder hoch.
Die satten Matten rund um die Alp hätten nicht schöner sein können, denn die Sonne war soeben über den im Schatten liegenden Silhouetten der östlichen Berge des Churer Rheintals hochgestiegen und warf nun ihr mildes Licht auf die von Blumen gesprenkelten Anhöhen unterhalb der steinernen Gipfelregionen des fast3000 Meter hohen Calanda.
Schritte.
Eine junge Frau trat Minuten später summend durch die sperrangelweit offen stehende Tür in die Alphütte. Ihr lang gezogener heller Schrei zerriss die morgendliche Stille am Berg!
Das Geläut der Schellen und Glocken schwebte danach wieder über den Weiden, als wäre der Schrei nie passiert, und die Kühe schnaubten hin und wieder zufrieden beim Grasen, ihre schweren Grinde nickten emsig.
Drei Stunden zuvor, als sich scheu der erste rosa Streifen über den Bergkämmen im Osten zeigte, hatte Zita Schwarz die Tiere einzutreiben geholfen. Die Zusennin lief mit einem Summen auf den Lippen leichtfüßig bergwärts, Richtung Chrüzboden, wo ein Teil des Vehs die Flanken des Calanda punktete, während Freya, ihre ältere Schwester und Sennerin, die Tiere von unterhalb, vom Schluechtbödeli und Sennenstein, hochtrieb. Beide taten dies wie immer auf dieselbe Art und Weise in der Früh: Mit ihren hellen Stimmen sangen sie die einfachen Ruflaute. Dann kamen die Kühe bald angelaufen, mit ihren prall gefüllten Eutern, an denen die Adern fingerdick hervorquollen.
Toni, der schwarzbärtige braungebrannte Melker und Küher, trieb ebenfalls die Tiere ein, schien aber auch an diesem Morgen über Nacht seine Sprache verloren zu haben. Missmutig wie der drahtige Kerl in den frühen Morgenstunden war, und das jeweils so lange, bis die Sonne aufstieg, brummte er höchstens mal vor sich hin. In sich gekehrt, paffte er die geschwungene Pfeife, die in seinem rechten Mundwinkel hing, und schwang seinen Stecken. An diesem Morgen schien der einsilbige Kerl noch verstockter und träger als sonst. Die Sennerin machte deshalb später beim Melken eine spitze Bemerkung darüber:
»Toni, wenn du dich nur noch ein wenig langsamer bewegst, siehst du aus wie ein Gemälde, auf dem ein stinkfauler Hirt zu sehen ist.«
Zita, die wie ihre Schwester knapp über30 war, kicherte unverhohlen laut, während ihre Hände emsig weiter molken. Toni tat so, als hätte er nichts gehört, gab der Kuh, die er soeben fertig gemolken hatte, aber einen gar gehörig groben Klaps an die Flanke, sodass diese schwerfällig einen Schritt zur Seite trat. Murrend verließ er mit dem beinahe überschwappenden Kessel den Stall. Sein einbeiniger Melkstuhl wackelte dabei an seinem Füdla umgebunden wie der Stachel einer riesigen Biene, während er hinüber zur Alphütte trottete, in der das schwere Kupferkessi am klobigen Schwenkarm aus Eisen über der Feuerstelle hing.
Er kippte das aufschäumende Weiß in den großen Kessel, der sich zunehmend füllte, bevor er sich, zurück im Stall, neben die nächste Kuh hockte, das graublaue Melkkäppi richtete und in gebeugter Haltung weiter molk, als gäbe es keine Worte in seiner Welt.
An diesem Morgen war Toni missmutig darüber, dass der Batzger, der Hirtenbuab Hansli, noch vor dem Käsen mit dem großen Rucksack hinunter ins Dorf, nach Haldenstein, würde gehen müssen, um Besorgungen zu machen,