: Michael Marrak
: De Profundis Roman
: Memoranda Verlag
: 9783948616854
: 1
: CHF 7.00
:
: Science Fiction, Fantasy
: German
: 382
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als sogenannter Rekon verfügt der Fallanalytiker Alexander ?Lex? Crohn über die Gabe in die Vergangenheit zu blicken. Ausgelöst werden diese als ?Echos? bezeichneten Visionen durch das Berühren eines am Tatort befindlichen Gegenstands oder des Opfers selbst. Die Erkenntnis, es in seinem aktuellen Fall mit demselben totgeglaubten Feind zu tun zu haben, der vor acht Monaten für eine bizarre Mordserie verantwortlich war, lässt Lex ahnen, dass er und seine Mitstreiter diesmal nicht die Jäger sind, sondern die Gejagten. Doch haben sie es wirklich nur mit einem Gegner zu tun, oder ist das, was sie verfolgt, womöglich fähig, sich in seinen ahnungslosen Wirten zu reproduzieren? Wem können sie noch vertrauen? Und wie sollen sie eine Entität bekämpfen, die ihr Katz-und-Maus-Spiel nicht nur auf die reale Welt beschränkt, sondern Lex in seinem vermeintlich ureigenen Territorium heimsucht: der Echo-Dimension? Die Suche nach dem Ursprung des Übels führt zurück in eine dunkle Vergangenheit - in eine Welt aus Tränen, Leid, Blut und Tod.

Michael Marrak, geboren 1965, studierte Grafik-Design in Stuttgart und trat Anfang der Neunzigerjahre als Autor, Herausgeber und Anthologist in Erscheinung. Nach einigen Jahren als freier Illustrator widmet Marrak sich seit 1997 ganz dem Schreiben und wurde für seine Romane, Erzählungen und Covergrafiken mehrfach mit dem European Science Fiction Award, dem Deutschen Phantastik Preis, dem Kurd Lasswitz Preis und dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnet. Übersetzungen seiner Romane und Erzählungen erschienen in Frankreich, Griechenland, Russland, China und den USA. Sein 2017 erschienener Roman »Der Kanon mechanischer Seelen« wurde mit dem renommierten Kurd Laßwitz Preis sowie mit dem auf der Leipziger Buchmesse vergebenen Seraph ausgezeichnet.

VORSPIEL

Als die letzten Häuser vor dem Abteilfenster vorbeizogen, waren Zoës Tränen längst getrocknet. Ihre Bestürzung war der Wut gewichen, die Wut letztlich der Resignation. Was übrig blieb, war das in Flashbacks wiederkehrende Entsetzen darüber, was geschehen war und eine diffuse Angst, die sie kaum einen klaren Gedanken fassen ließ. Auf sie folgten Verzweiflung und Resignation und schließlich eine Traurigkeit, die in eine tiefe innere Leere mündete.

An jeder neuen Haltestation befürchtete Zoë, dass Polizisten oder Zivilfahnder einsteigen könnten, um die Abteile nach ihr zu durchsuchen. Während vor dem Fenster die Lauben und Parzellen einer Schrebergartensiedlung vorbeihuschten, drehten Zoës Gedanken sich um den Fremden, mit dem sie hinter dem Haus ihrer Stiefmutter aneinandergeraten war. Irgendetwas an ihm war anders gewesen als bei gewöhnlichen Menschen ganz zu schweigen von gewöhnlichen Polizisten oder Ermittlern. Zoë fand keine Worte für dieses Gefühl. Einerseits hatte er etwas Aufrichtiges, Wahrhaftiges ausgestrahlt, dem sie sich gerne anvertraut hätte, andererseits hatte ihn eine Aura umgeben, die ihr selbst jetzt, als sie an diese Begegnung zurückdachte, noch einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Nach ihrer Flucht aus dem Haus hatte sie mit dem Gedanken gespielt, die Speicherkarte ihres Handys zu entfernen und das Gerät zu entsorgen. Im letzten Augenblick hatte sie es wieder aus dem Bahnhofsmülleimer gefischt und es dabei belassen, es in den Flugmodus zu versetzen und das GPS zu deaktivieren.

Je weiter der Zug sich von der Stadt entfernte, desto nervöser wurde sie. Es stand außer Frage, dass spätestens seit dem Zwischenfall hinter der Villa nach ihr gefahndet wurde. Der Fremde, den sie
mit einem Tritt ins Reich der Träume geschickt hatte, hatte ihr Gesicht gesehen, und für die Behörden war sie beileibe keine Unbekannte.

Ihre Flucht war eine Fahrt ins Ungewisse, ein Trip ohne wirkliches Ziel, in der Hoffnung, fern der Stadt einen Unterschlupf für die kommenden Tage zu finden. Womöglich hatte der Bahnhofswärter von St. Alban vorübergehend eine Bleibe für sie. Er würde sie bestimmt wiedererkennen, spätestens wenn sie ihm ihren Namen sagte. Ihm konnte sie sich anvertrauen und das Desaster erklären, ohne befürchten zu müssen, dass er sofort die Polizei verständigte.

Mit einem flauen Gefühl im Magen blickte Zoë dem abfahrenden Triebwagen nach, dann sah sie sich auf dem Bahnsteig um. Alles wirkte vertraut und gleichzeitig irritierend fremd. Die Formen, Farben und Geräusche wollten nicht zu ihren Erinnerungen passen. Selbst der von Kondensstreifen durchzogene Abendhimmel wirkte falsch.

Außer ihr hatten nur eine Handvoll weiterer Passagiere den Zug verlassen, durchweg alte Menschen, in deren Gegenwart Zoë bemüht war, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen.

Zwar war sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen, doch eine derartige Veränderung hatte sie nicht erwartet. Die gesamte Station war modernisiert und die Strecke zweigleisig ausgebaut worden. Anstelle des hüfthohen Lattenzauns, der seit ihrer Kindheit das Bahnareal vom angrenzenden Wald getrennt hatte, stand jenseits der Gleise eine lückenlose, drei Meter hohe Barriere aus Maschendraht. Dahinter war der Hang offenbar auf der gesamten Länge des Bahnsteigs gerodet worden. Die gut einhundert Meter weite Schneise schien bis hinab ins Tal zu reichen. Statt des alten Bahnübergangs