VORSPIEL
Als die letzten Häuser vor dem Abteilfenster vorbeizogen, waren Zoës Tränen längst getrocknet. Ihre Bestürzung war der Wut gewichen, die Wut letztlich der Resignation. Was übrig blieb, war das in Flashbacks wiederkehrende Entsetzen darüber, was geschehen war und eine diffuse Angst, die sie kaum einen klaren Gedanken fassen ließ. Auf sie folgten Verzweiflung und Resignation und schließlich eine Traurigkeit, die in eine tiefe innere Leere mündete.
An jeder neuen Haltestation befürchtete Zoë, dass Polizisten oder Zivilfahnder einsteigen könnten, um die Abteile nach ihr zu durchsuchen. Während vor dem Fenster die Lauben und Parzellen einer Schrebergartensiedlung vorbeihuschten, drehten Zoës Gedanken sich um den Fremden, mit dem sie hinter dem Haus ihrer Stiefmutter aneinandergeraten war. Irgendetwas an ihm war anders gewesen als bei gewöhnlichen Menschen ganz zu schweigen von gewöhnlichen Polizisten oder Ermittlern. Zoë fand keine Worte für dieses Gefühl. Einerseits hatte er etwas Aufrichtiges, Wahrhaftiges ausgestrahlt, dem sie sich gerne anvertraut hätte, andererseits hatte ihn eine Aura umgeben, die ihr selbst jetzt, als sie an diese Begegnung zurückdachte, noch einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
Nach ihrer Flucht aus dem Haus hatte sie mit dem Gedanken gespielt, die Speicherkarte ihres Handys zu entfernen und das Gerät zu entsorgen. Im letzten Augenblick hatte sie es wieder aus dem Bahnhofsmülleimer gefischt und es dabei belassen, es in den Flugmodus zu versetzen und das GPS zu deaktivieren.
Je weiter der Zug sich von der Stadt entfernte, desto nervöser wurde sie. Es stand außer Frage, dass spätestens seit dem Zwischenfall hinter der Villa nach ihr gefahndet wurde. Der Fremde, den sie
mit einem Tritt ins Reich der Träume geschickt hatte, hatte ihr Gesicht gesehen, und für die Behörden war sie beileibe keine Unbekannte.
Ihre Flucht war eine Fahrt ins Ungewisse, ein Trip ohne wirkliches Ziel, in der Hoffnung, fern der Stadt einen Unterschlupf für die kommenden Tage zu finden. Womöglich hatte der Bahnhofswärter von St. Alban vorübergehend eine Bleibe für sie. Er würde sie bestimmt wiedererkennen, spätestens wenn sie ihm ihren Namen sagte. Ihm konnte sie sich anvertrauen und das Desaster erklären, ohne befürchten zu müssen, dass er sofort die Polizei verständigte.
Mit einem flauen Gefühl im Magen blickte Zoë dem abfahrenden Triebwagen nach, dann sah sie sich auf dem Bahnsteig um. Alles wirkte vertraut und gleichzeitig irritierend fremd. Die Formen, Farben und Geräusche wollten nicht zu ihren Erinnerungen passen. Selbst der von Kondensstreifen durchzogene Abendhimmel wirkte falsch.
Außer ihr hatten nur eine Handvoll weiterer Passagiere den Zug verlassen, durchweg alte Menschen, in deren Gegenwart Zoë bemüht war, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen.
Zwar war sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen, doch eine derartige Veränderung hatte sie nicht erwartet. Die gesamte Station war modernisiert und die Strecke zweigleisig ausgebaut worden. Anstelle des hüfthohen Lattenzauns, der seit ihrer Kindheit das Bahnareal vom angrenzenden Wald getrennt hatte, stand jenseits der Gleise eine lückenlose, drei Meter hohe Barriere aus Maschendraht. Dahinter war der Hang offenbar auf der gesamten Länge des Bahnsteigs gerodet worden. Die gut einhundert Meter weite Schneise schien bis hinab ins Tal zu reichen. Statt des alten Bahnübergangs