1. KAPITEL
Melanie McAdams genoss nichts mehr, als sich mit den Problemen anderer Menschen beschäftigen zu können. Denn nur das erlaubte ihr, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Gutes zu tun und gleichzeitig kurzzeitig vergessen zu können, dass ihr Leben jeden Sinn verloren hatte, ohne Hoffnung auf Besserung. DieBedford Rescue Mission, für die sie tätig war, nahm als Notunterkunft ausschließlich alleinstehende Mütter mit ihren Kindern auf und gab ihnen ein Dach über dem Kopf – so lange, wie es eben nötig war.
Inzwischen half Melanie hier schon seit fast drei Jahren aus. Zunächst nur, wenn es ihr eigentlicher Beruf als Grundschullehrerin zuließ. Doch als vor einiger Zeit ihre ganze Welt zusammengebrochen war, hatte sie sich von ihrer Schuldirektorin beurlauben lassen, um ihre ehrenamtliche Tätigkeit in Vollzeit auszuüben.
Heute war allerdings einer dieser Tage, an denen sie machen konnte, was sie wollte – sie kam nicht gegen die düsteren Erinnerungen an, die ihr immer wieder durch den Kopf spukten.
Genau heute war es neun Monate her, dass der schwarze Wagen direkt vor ihrem Haus gehalten hatte … dem Haus, in dem sie mit Jeremy hatte leben wollen. Sie hatte die Eingangstür geöffnet, und draußen stand Oberleutnant John Walters, zusammen mit einem Militärgeistlichen. Die beiden waren gekommen, um ihr mit ernster Miene die schrecklichste Nachricht zu überbringen, die sie je erhalten hatte: Jeremy Williams, ihre Jugendliebe und ihr Verlobter, der ihr alles bedeutet hatte, würde nie mehr zu ihr zurückkommen. Nur sein lebloser Körper sollte noch in seine Heimatstadt Bedford überführt werden.
Die Erinnerung an diesen Tag ließ Melanie nicht mehr los. Sie zitterte, und immer wieder rutschten die Kinderbücher, die sie in einem der Aufenthaltsräume auf einem Beistelltisch stapeln wollte, auf den Boden.
Vier Tage, dachte sie. Jeremy hätte nur noch vier Tage durchhalten müssen, dann wäre er für immer in Sicherheit gewesen. Dann hätte er nämlich seinen Militärdienst beendet und wäre zu ihr zurückgekehrt – um sie zu heiraten.
Aber dazu war es nicht gekommen, und würde es auch nicht mehr kommen. Denn jetzt lag Jeremy in einem kühlen Grab, und nicht in ihrem warmen Bett.
„Alles okay, Miss Melody?“, erkundigte sich eine hohe Kinderstimme.
Melanie versuchte, sich so gut es ging zusammenzureißen, als sie sich zu dem kleinen grünäugigen Mädchen umdrehte, das ihr die Frage gestellt hatte: April O’Neill war eine hübsche, aufgeweckte Fünfjährige, die mit ihrem siebenjährigen Bruder Jimmy und ihrer Mutter Brenda inzwischen seit über einem Monat in der Unterkunft wohnte. Davor hatten sie in einer nahe gelegenen Stadt auf der Straße gelebt – wie lange genau, das hatte die Mutter nicht verraten wollen.
Als das Mädchen sie anfangs fälschlicherweise Melody genannt hatte, hatte Melanie noch versucht, sie aufzuklären. Mit der Zeit hatte sie sich aber daran gewöhnt. Die kleine Familie, die schon so viel hatte durchmachen müssen, war ihr schnell ans Herz gewachsen. Brenda war verwitwet und hatte dazu noch ihren Job verloren. Nachdem sie zwei Monate mit der Miete im Rückstand gewesen war, hatte der Vermieter sie und die Kinder einfach vor die Tür gesetzt.
Die kleine Familie hatte lange auf der Straße gelebt … bis sich irgendwann ein Polizist erbarmt und sie im Streifenwagen zur Notunterkunft für alleinerziehende Mütter gebracht hatte.
Jetzt zwang Melanie sich zu einem Lächeln und blickte das Mädchen an. „Ja, mit mir ist alles okay, meine Süße.“
Die Antwort schien April nicht zu überzeugen. Sie runzelte die Stirn. „Aber da läuft Wasser aus deinen Augen. Genau wie bei Mama, wenn sie gerade wieder an etwas Tra