1. KAPITEL
Die Landschaft leuchtete im Licht des frühen Mittags. Bis zum Horizont erstreckten sich die anmutigen Olivenhaine, und schlanke Zypressen ragten in den azurblauen Himmel. Büsche blühten am Wegesrand, und ihr Duft vermischte sich mit dem von Ginster und Jasmin, die ihre gelben und weißen Köpfe im Frühlingswind wiegten und dabei flüsternd vom nahenden Sommer erzählten.
Zumindest Cathrin glaubte, die Blumen sprechen zu hören. Die wundervolle Landschaft der Toskana verzauberte sie, seit sie vor wenigen Tagen angekommen war. Der Gedanke, eine längere Zeit hier verbringen zu dürfen, rief ein intensives Glücksgefühl in ihr hervor. Wann hatte sie sich das letzte Mal so frei und leicht gefühlt?
Schade war allerdings, dass ihre Schwester Susan gleich abreisen musste. Längst wartete das Taxi unter dem großen Baum, der mit mächtiger Krone in der Mitte des Hofes stand. Von der Familie Bellucci war niemand zu sehen. Hausherrin Cassandra hatte Susan eben im Salon verabschiedet, und die anderen Familienmitglieder waren wohl zu beschäftigt. Aber wenigstens hatten sie am Abend zuvor alle gemeinsam gegessen.
Wo blieb Susan jetzt nur so lange? Sie hatte doch nur ihre Tasche holen wollen.
Cathrin blickte an der strahlend weißen Fassade des wundervollen Landhauses empor. Einen Augenblick fühlte sie sich beobachtet. Bewegte sich da hinter einem Fenster nicht ein Schatten?
Doch nein, bestimmt war es nur eine Täuschung im gleißenden Licht, das sich in den blanken Scheiben spiegelte. Als sie blinzelte und nochmals hinsah, war der Schatten verschwunden, und sie dachte nicht weiter darüber nach. Stattdessen ließ sie abermals bewundernd den Blick über das Anwesen der Belluccis streifen, das so harmonisch im Chiana-Tal eingebettet lag, einem Landstrich nahe der bezaubernden Ortschaft Montepulciano.
„Casa Portafortuna“ hieß der schöne Flecken: das Haus, das Glück bringen sollte. Der Garten glich einem kleinen Park, und was hier bescheiden als Gästezimmer angeboten wurde, erwies sich als Suite mit dem Komfort eines Fünfsternehotels. Selten hatte Cathrin so exquisit gewohnt.
„Signorina?“ Der Taxifahrer war nun ausgestiegen und blickte zu ihr herüber. „Benötigen Sie vielleicht Hilfe mit dem Koffer, soll ich ihn holen?“
Das war wohl ein freundlicher Hinweis darauf, dass der Fahrer nicht vorhatte, ewig zu warten.
„Nur noch einen Moment, bitte“, erwiderte Cathrin. „Wir kommen gleich.“ Rasch lief sie Richtung Gästetrakt, wo Susan noch sein musste. Von nun an würde sie hier einige Wochen allein wohnen, um in Ruhe für ihr Studienprojekt in London zu recherchieren.
„Susan?“ Sie lief rasch die Stufen hinauf und stieß die Tür auf.
Ihre Schwester verstaute gerade etwas in ihrer Tasche, sie wirkte seltsam angespannt.
„Was ist denn los?“ Cathrin blieb stehen. „Ist etwas passiert? Das Taxi wartet …“
„Ja, ich weiß“, gab Susan etwas ungehalten zurück. „Es ist nur …“
„Was denn?“
„Nun … ich … ich habe das Gefühl, es ist jemand im Zimmer gewesen, während wir eben noch im Salon waren.“
Cathrin zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Fehlt dir denn etwas? Geld? Deine Papiere? Oder Schmuck?“
„Nein …“
„Was dann?“ Cathrin trat näher heran u