1. KAPITEL
„Es ist lange her, Leigh.“
Die tiefe samtweiche Stimme traf Leigh wie ein Schlag in den Magen. Dass dieser Tag einmal kommen würde, hatte sie immer gewusst, und sie hatte ihn gefürchtet. Und dennoch brachte dieser einschmeichelnde französische Akzent eine ganz bestimmte Saite in ihrem Inneren zum Schwingen.
„Hallo, Raoul.“ Die Erinnerungen überschlugen sich hinter ihrer glatten Stirn. Langsam drehte sie sich um. Sie versuchte nicht einmal zu lächeln, während sie in die zwingenden blauen Augen starrte, die ihr einst so viel Glück und Schmerz beschert hatten. „Fünf Jahre, um genau zu sein.“
„Und zwei Monate.“ Er sah immer noch überwältigend gut aus, doch etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte, hatte sich an ihm verändert. Vielleicht waren es die feinen Linien um den sensiblen, großzügigen Mund und in den Augenwinkeln, die sein gebräuntes Gesicht noch maskuliner erscheinen ließen. Die aristokratische Nase, das feste vorspringende Kinn waren genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte. „Wie du siehst, erinnere ich mich sehr genau daran.“ Auch er versuchte nicht, die Situation durch ein Lächeln zu entspannen. Seine offen zur Schau getragene Selbstsicherheit und Gelassenheit begannen Leigh zu ärgern, und das brachte ihre sanften braunen Augen zum Funkeln. So sehr hatte er sich also doch nicht verändert!
„Geht es dir gut?“ Als Reaktion auf ihr kurzes Nicken zeigte er seine blendend weißen Zähne. „Das freut mich.“
„Und du?“ Das ist doch lächerlich, dachte sie hilflos. Da standen sie nun voreinander und tauschten höfliche Nichtigkeiten aus, als wären sie nichts weiter als flüchtige Bekannte, die sich nach langer Zeit zufällig wiedertrafen.
„Mir geht es auch gut.“ Er betrachtete ihre glühenden Wangen, den bebenden weichen Mund, verharrte dann bei ihrer brünetten Lockenpracht, die ihr bis über die Schultern fiel. „Du hast deine Haare wachsen lassen. Gefällt mir.“ Der gönnerhafte Ton in seiner Stimme brachte sie zum Schäumen.
„Besten Dank.“ Gleich schreie ich, dachte Leigh verzweifelt und hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so unsicher und verletzlich gefühlt. Seit fünf Jahren, genauer gesagt. Sie schaute auf ihre verkrampften Hände herab, deren Knöchel bereits weiß hervortraten. Mit großer Anstrengung zwang sie sich, dem durchdringenden Blick der blauen Augen noch einmal zu begegnen. „Bist du aus geschäftlichen Gründen in England?“
„So könnte man es auch nennen“, entgegnete Raoul mit flüchtigem Lächeln, offenbar immer noch völlig unberührt von ihrer Gegenwart.
„Oh …“, stammelte sie verunsichert und hatte das Gefühl, ihr Kopf sei völlig hohl. „Nun …“ Sie schaute hilflos um sich und trat dann einen Schritt zurück. „Ich glaube, ich sollte jetzt lieber …“
„Ich habe gehört, dass du inzwischen großen Erfolg mit deinen Bildern hast.“
Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, konnte aber keinen Anflug von Ironie oder Spott in seinem dunklen Gesicht entdecken. Stattdessen echtes Interesse und noch etwas anderes – etwas, das ihr fast den Atem nahm und sie ganz schwindelig machte. Er hatte kein Recht, sie auf diese Art anzusehen! Nicht das geringste!
„Du bist noch genauso wunderschön wie damals.“ Seine Stimme klang heiser, und Leighs Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Wie oft war sie nach einer Nacht in seinen Armen von diesen geflüsterten Worten aufgewacht. Dass sie schön sei, dass sie sein größtes Entzücken sei und dass er sie nie gehen lassen würde …
„Ich war nie wirklich schön“, entgegnete sie kühl und versuchte, den Schmerz aus ihrer Stimme zu tilgen.
„Doch, für mich warst du es – immer.“ Ich ertrage es nicht mehr, dachte sie wild. Seit Wochen hatte sie sich auf den heutigen Tag gefreut, in der Erwartung, auf Nigel Blakeskleinem Treffen, wie er seine legendären Partys nannte, zwischen all den reichen Müßiggängern auch auf einige bedeutende Künstler zu stoßen. Nigel war immens stolz darauf, dass es ihm immer wieder gelang, eine ausgewogene Mischung aus jungen, aufstrebenden Künstlern, einigenalten Hasen und betuchten, einflussreichen Leuten zusammenzustellen, die seine Gesellschaften zum Highlight der gehobenen Londoner Partyszene machten. Und es gab weit mehr als nur einen unbekannten, aber talentierten Künstler, der durch dieses Beziehungskarussell inzwischen sein Glück und sein Vermögen gemacht hatte.
„Ich muss mit dir sprechen, Leigh.“ Als Raoul vertraulich seine Hand auf ihren Arm legte, hatte sie das Gefühl, einen heftigen elektrischen Schlag zu bekommen. Abrupt trat sie einen Schritt zurück, während es in ihren Augen wetterleuchtete.
„Tut mir leid“, sagte sie schnell, erschüttert von der Wirkung, die seine Berührungen immer noch auf sie hatten. „Aber ich möchte nicht mit dir reden.“
„Das ist nicht gerade freundlich von dir.“ Meinte er das zynisch, oder hatte sie ihn mit ihrer Zurückweisung tatsächlich getroffen? „Ich bin ein geduldiger Mann, Leigh, aber es gibt da noch ein paar offene Punkte zwischen uns, die wir klären müssen. Das verstehst du doch sicher, oder?“
„Nein, verstehe ich nicht. Was genau meinst du damit