Studentenleben
Dass meinen phantastischen Neigungen nicht eigentlich ein Hang zu oberflächlicher Zerstreuung zugrunde lag, zeigte sich in dem angelegentlichen Eifer, mit welchem ich mich diesem gelehrten Verwandten anschloss. Allerdings war er im Umgang und Gespräch sehr anziehend; die Vielseitigkeit seines Wissens, welches sich vom philologischen Fach über das philosophische und literar-poetische mit gleicher Wärme ausdehnte, vermochte nach dem Bekenntnis vieler, wenn er sich in gesprächlicher Unterhaltung mitteilte, höchst einnehmend zu wirken. Dass ihm hiergegen die Gabe versagt war, ebenso hinreißend, ja selbst nur klar zu schreiben, war eine der sonderbaren Unvollkommenheiten dieses Mannes, die seine Wirksamkeit auf die literarische Welt bedeutend abschwächte, ja ihn sogar oft der Lächerlichkeit aussetzte, indem man ihm bei vorkommender Polemik die unverständlichsten und schwülstigsten Sätze nachweisen konnte. Mich sollte diese Schwäche nicht abschrecken, da ich einerseits in der unklaren Periode meiner eigenen Entwicklung befangen war, in welcher literarischer Schwulst mir umso tiefsinniger erschien, als ich ihn nicht fassen konnte, andererseits aber ich weniger von meinem Onkel las, als mit ihm mich unterhielt. Auch ihm schien der Umgang mit dem feurig aufhorchenden Jüngling angenehm. Leider vergaß er im vielleicht nicht ganz unselbstgefälligen Eifer seiner Mitteilung, dass er hierbei, wie in der Wahl seiner Ausdrucksweise, weit über meine jugendliche Fassungskraft hinausging. Täglich holte ich ihn zu den seiner Gesundheit nötigen Nachmittagspromenaden um die Tore der Stadt ab. Ich vermute oft das Lächeln vorübergehender Bekannter erregt zu haben, welche den tiefsinnigen und oft aufreizenden Diskussionen zwischen mir und meinem Onkel lauschten. Den Gegenstand derselben bildete im Grund alles Ernst und Erhabene auf dem Gebiet des Wissens. Seine reichhaltige Bibliothek hatte mich fieberhaft nach allen Seiten hin aufgeregt, so dass ich feurig von einem Gebiet der Literatur in das andere übersprang, ohne dazu gelangen zu können nach irgendeiner Seite hin mich gründlich zu unterrichten. Mein Oheim freute sich in mir einen höchst willigen Zuhörer von Vorlesungen klassischer Tragödien, von denen er zum Beispiel selbst eine Übersetzung des König Ödipus geliefert hatte, zu finden; denn mit Recht schmeichelte er sich nach Tieck, der ihm wahrhaft befreundet war, einer der besten Vorleser zu sein. Ich entsinne mich, dass, als er einsam mit dem Lesepult vor mir saß und eine griechische Tragödie vorlas, es ihn nicht verdross, als ich vollkommen einschlief, was er nachträglich gar nicht bemerkt zu haben vorgab. Meine Abende bei ihm zu verbringen, bestimmte mich außerdem die freundlich behagliche Bewirtung, welche mir von seiner Frau zuteil ward. Seit meiner frühesten Bekanntschaft mit meinem Oheim im Thomé'schen Haus war nämlich eine große Veränderung in dessen Leben vorgegangen. Das Asyl, welches er mit seiner Schwester Friederike bei seiner Freundin gefunden, schien mit der Zeit für ihn doch unerträgliche Verpflichtungen herbeizuführen. Da seine literarischen Arbeiten ihm ein mäßiges Einkommen sicherten, fand er es endlich seiner Würde entsprechender einen eigenen Hausstand zu gründen. Eine seinem Alter angemessene Freundin, die Schwester des nicht unrühmlich bekannt gewordenen Ästhetikers Wendt in Leipzig, wurde von ihm bestimmt, seine eigene Häuslichkeit ihm herzurichten. Ohne Jeannette ein Wort zu sagen war er, statt des gewöhnlichen Nachmittagsspaziergangs, mit seiner Erwählten zur schnellen Abmachung der üblichen Trauungs-Zeremonien in die Kirche gegangen, und meldete nun bei der Heimkehr, dass er ausziehe, und noch heute seine Sachen abholen lassen werde. Der großen Bestürzung, vielleicht auch den Vorwürfen seiner älteren Freundin, wusste er mit milder Fassung zu begegnen, und bis an sein Lebensende setzte er seine regelmäßigen täglichen Besuche bei der zu Zeiten zärtlich schmollenden Mamselle Thomé fort. Nur die arme Friederike schien die unerwartete Untreue des Bruders mitunter büßen zu müssen.
Was mich an meinem Oheim besonders feurig anzog, war seine schroffe, aber doch humoristisch sich äußernde Verachtung des modernen Pedantismus in Staat, Kirche und Schule. Bei großer Mäßigung seiner sonstigen Ansichten über das Leben, machte er auf mich doch die Wirkung des eigentlichen Freigeistes. Völlig begeisternd wirkte auf mich seine Verachtung der Schulpedanterie. Als ich eines Tages mit dem Lehrer-Kollegium der Nicolai-Schule in bedenkliche Konflikte geraten war, und der Rektor derselben sich mit einer ernstlichen Beschwerde über mein Betragen an meinen Oheim, als den einzigen männlichen Vertreter meiner Verwandtschaft richtete, fragte mich dieser beim Spaziergang um die Stadt gelegentlich ruhig und lächelnd wie einen Altersgenossen, was ich denn mit den Leuten an der Schule gehabt hätte; ich erklärte ihm den Vorfall und berichtete ihm von der mir ungerecht dünkenden Strafe, zu welcher ich verurteilt war. E