: Ljudmila Ulitzkaja
: Medea und ihre Kinder Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446276796
: 1
: CHF 13.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jedes Jahr im April herrscht wildes Chaos im Haus von Medea, wenn ihre Verwandtschaft aus aller Welt zu ihr auf die Krim strömt. Ljudmila Ulitzkajas beeindruckendes Epochengemälde zeigt die Halbinsel so, wie sie schon immer war: weltoffen und vielfältig. Ein Familienroman, der die unerschütterliche Hoffnung offenbart, Zerwürfnisse überwinden zu können.

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021), Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022) und zuletzt Die Erinnerung nicht vergessen (2023). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2020 den Siegfried Lenz Preis sowie 2023 den Erich-Maria-Remarque-Friedens reis und den Günter-Grass-Preis.

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Jelena Stepanjan, Georgis Mutter, kam aus einer angesehenen kultivierten armenischen Familie und dachte zunächst nicht im Traum daran, einen einfachen Griechen aus der Vorstadt von Feodossija zu heiraten, den älteren Bruder ihrer Busenfreundin vom Gymnasium.

Medea Sinopli war der strahlende Stern des Mädchengymnasiums; ihre mustergültigen Hefte wurden allen nachfolgenden Generationen von Gymnasiastinnen gezeigt. Die Freundschaft der beiden Mädchen begann mit heimlicher, glühender Rivalität. In jenem Jahr — neunzehnhundertzwölf — war die Familie Stepanjan wegen einer Lungenerkrankung von Jelenas jüngerer Schwester Anahit nicht wie sonst für den Winter nach Petersburg gefahren. Die Familie überwinterte in ihrer Datscha in Sudak, und Jelena lebte mit ihrer Gouvernante das ganze Jahr in Feodossija, in einem Hotel, und besuchte das Mädchengymnasium, wo sie der Bestschülerin Medea heftige Konkurrenz machte.

Die pummelige, freundliche Jelena nahm das ganz unaufgeregt und schien sich am Wettbewerb gar nicht zu beteiligen. Das konnte entweder aus engelhafter Großzügigkeit herrühren oder aber aus teuflischem Hochmut. Für Jelena waren ihre Erfolge keinen Pfifferling wert: Die Schwestern Stepanjan erhielten eine gute häusliche Erziehung, Französisch und Deutsch lernten sie bei ihrer Gouvernante, außerdem hatten sie ihre frühe Kindheit in der Schweiz verbracht, wo ihr Vater in diplomatischen Diensten stand.

Beide Mädchen, Medea und Jelena, beendeten die dritte Klasse ausschließlich mit Bestnoten, doch diese Bestnoten waren verschieden — sicher und mit Leichtigkeit erworben bei Jelena und mit Schweiß und Schwielen erarbeitet bei Medea. Bei allem unterschiedlichen Gewicht ihrer Noten erhielten beide zum Schuljahresabschluss das gleiche Geschenk: eine dunkelgrüne einbändige Nekrassow-Ausgabe mit einer Widmung.

Am Tag nach der Abschlussfeier, gegen fünf Uhr, traf überraschend die Familie Stepanjan vollzählig im Haus der Sinoplis ein. Die Frauen des Hauses, allen voran Matilda, das stumpf gewordene Haar unter einem weißen Kopftuch verborgen, rollten an einem großen Tisch im Schatten zweier alter Maulbeerbäume Teig für Baklawa aus. Der einfachste Teil der Operation, der auf dem Tisch stattfand, war bereits getan, und nun zogen sie den Teig mit den Händen auseinander. Auch Medea und ihre Schwestern beteiligten sich daran.

Jelenas Mutter, Armik Tigranowna, schlug die Hände zusammen — genau so wurde seit ihrer Kindheit in Tiflis Baklawa gemacht.

»Meine Großmutter konnte das am besten!«, rief sie und bat um eine Schürze.

Herr Stepanjan strich sich mit einer Hand über den grau melierten Schnurrbart und beobachtete mit wohlwollendem Lächeln die feiertägliche Arbeit der Frauen, bewunderte, wie ihre ölglänzenden Hände im scheckigen Schatten flink hin und her huschten, wie sie leicht und zärtlich das Teigblatt berührten.

Dann bat Matilda sie auf die Terrasse, sie tranken Kaffee mit eingezuckerten Früchten, und wieder schwelgte Armik Tigranowna in Kindheitserinnerungen angesichts dieser dicken Konfitüre. Die gemeinsamen kulinarischen Neigungen, die im Türkischen wurzelten, nahmen die berühmte Dame noch mehr für die freundliche, arbeitsame Familie ein, und sie fand die Idee ihrer Tochter, ein ihr kaum bekanntes Mädchen aus der Familie eines Schiffsmaschinisten als Feriengast einzuladen, die ihr zunächst fragwürdig erschienen war, nun sehr gut.

Der Vorschlag kam für Matilda überraschend, schmeichelte ihr aber, und sie versprach, sich noch heute mit ihrem Mann zu beraten, und dieser Beweis ehelichen Respekts in einer so einfachen Familie nahm Armik Tigranowna noch mehr für sie ein.

Vier Tage später fuhr Medea zusammen mit Jelena nach Sudak, in ein wundervolles Sommerhaus direkt am Meer, das noch heute an dieser Stelle steht, umgebaut zu einem Sanatorium, gar nicht weit entfernt vom Oberen Ort, den viele Jahre später die gemeinsamen Nachkommen von Armik Tigranowna und der rothaarigen Matilda, die den Teig für die Baklawa so geschickt zu bereiten verstand, besuchen würden.

Die Mädchen hielten einander für vollkommen: Medea schätzte die vornehme Schlichtheit und strahlende Güte Jelenas, und Jelena war begeistert von Medeas Furchtlosigkeit, Selbstständigkeit und der besonderen weiblichen Begabung ihrer Hände, die Medea teils geerbt, teils von ihrer Mutter angenommen hatte.

Nachts, auf gesunden, harten deutschen Klappbetten liegend, führten sie lange bedeutsame Gespräche, und seit jener Zeit bewahrten sie ein Gefühl tiefer seelischer Verbundenheit, obwohl sie später nicht mehr hätten sagen können, was sie so Vertrauliches in jenem Sommer bis zum Morgengrauen besprochen hatten.

Medea erinnerte sich genau an Jelenas Erzählung darüber, wie sie einmal während einer Krankheit einen Engel vor einer plötzlich durchsichtigen Wand gesehen hatte, hinter der sie einen jungen, noch sehr lichten Wald erkannte; und Jelena waren Medeas Berichte über deren unzählige Funde im Gedächtnis geblieben, an denen ihr Leben so reich war. Diese Gabe offenbarte Medea in jenem Sommer übrigens allen zur Genüge, indem sie eine ganze Sammlung von Halbedelsteinen der Krim zusammentrug.

Eine weitere im Gedächtnis gebliebene Episode hing mit einem Lachanfall zusammen, der die beiden eines Nachts überkam, als sie sich vorstellten, der Musiklehrer, ein humpelnder, affektierter junger Mann, würde die Leiterin des Gymnasiums heiraten, eine riesige, strenge Dame, vor der selbst die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett zitterten.

Im Herbst wurde Jelena nach Petersburg gebracht, und da begann der Briefwechsel der beiden, der mit einigen Unterbrechungen nun schon über sechzig Jahre andauerte. In den ersten Jahren schrieben sie sich ausschließlich auf Französisch, das Jelena damals bedeutend besser beherrschte als Russisch. Medea unternahm einige Anstrengungen, um die gleiche Freiheit darin zu erlangen, wie die Freundin sie bei ihren ausgedehnten Spaziergängen mit der Gouvernante am Ufer des Genfer Sees erworben hatte. Die Mädchen, der geistigen Mode jener Jahre folgend, bekannten einander böse Gedanken und böse Absichten (»… und ich verspürte den heftigen Wunsch, sie auf den Kopf zu schlagen! … die Geschichte mit dem Tintenfass war mir bekannt, aber ich schwieg, ich glaube, das war eine richtige Lüge von mir … und Mama ist noch immer überzeugt, dass Fjodor das Geld genommen hat, und mich hat es richtig gejuckt zu sagen, dass es Galja war …«). Das alles ausschließlich auf Französisch!

Diese rührenden Selbstenthüllungen endeten abrupt mit Medeas Brief vom zehnten Oktober neunzehnhundertsechzehn. Dieser Brief war auf Russisch geschrieben, hart und kurz. Darin teilte sie mit, dass am siebten Oktober neunzehnhundertsechzehn vor der Sewastopoler Bucht das Schiff »Kaiserin Maria« explodiert war und sich unter den Toten der Schiffsmaschinist Georgi Sinopli befand. Man vermutete Sabotage. Durch die Umstände der Kriegszeit, die nahtlos überging in die Revolution und einen chaotischen Krieg auf der Krim, konnte das Schiff nicht sofort geborgen werden, und erst drei Jahre später, bereits in sowjetischer Zeit, bewies ein Expertengutachten, dass die Explosion durch einen im Schiffsmotor angebrachten Sprengsatz verursacht worden war. Einer der Söhne Georgis, Nikolai, war als Taucher an der Bergung des gesunkenen Wracks beteiligt.

In jenen Oktobertagen trug Matilda ihr vierzehntes Kind, das nicht im August zur Welt kommen sollte wie alle ihre anderen Kinder, sondern Mitte Oktober. Beide, Matilda und das rosaköpfige Mädchen, folgten Georgi neun Tage nach dessen Tod.

Medea war die Erste, die vom Tod ihrer Mutter erfuhr. Sie erschien am Morgen im Krankenhaus, und Schwester Fatima kam ihr entgegen, hielt sie auf der Treppe an und sagte in der Sprache der Krimtataren, die damals viele Bewohner der Krim beherrschten:

»Mädchen, geh nicht dahin, geh zum Doktor, er erwartet dich.«

Doktor Lesnitschewski kam ihr mit nassem Gesicht entgegen. Er war ein kleiner, dicker Greis, Medea überragte ihn um Haupteslänge. Er sagte: »Mein Goldstück!«, und reckte die Arme, um ihren Kopf zu streicheln. Matilda und er hatten im selben Jahr angefangen, sie mit dem Gebären und er mit der Leitung der Entbindungsstation; alle ihre Kinder hatte er selbst geholt.

Nun waren sie noch dreizehn. Dreizehn Kinder, die...