: Aisha Abdel Gawad
: Zwischen zwei Monden Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841233486
: 1
: CHF 4.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

»Ein atemberaubendes Buch darüber, was es bedeutet, muslimisch aufzuwachsen.« New York Times.

Es ist Sommer in New York, und es ist der Monat des Ramadan. Endlos lange 15-Stunden-Tage des Fastens liegen vor den Zwillingen Amira und Lina, die in Bay Ridge aufwachsen, einer muslimischen Enklave am Rande Brooklyns. Sie wollen einen ausgelassenen Sommer verbringen, bevor die Schulzeit endet und der Ernst des Lebens beginnt. Doch dann wird ihr Bruder aus dem Gefängnis entlassen, und dessen geheimnisvolles Verhalten droht die fragile Familienkonstellation aus der Balance zu bringen.

»Zwischen zwei Monden« ist das intime Porträt einer Familie und ein starker Roman über Glauben, Familie, Gemeinschaft und darüber, was es heute bedeutet, jung und muslimisch zu sein. 



Aisha Abdel Gawad hat einen Abschluss in Creative Writing von der Cornell University in New York. Für ihre Kurzgeschichte »Waking Luna« wurde sie 2015 mit einem Pushcart Prize ausgezeichnet. Sie hat in einem Gemeindezentrum der Arab American Association of New York in Bay Ridge, Brooklyn gearbeitet. Aktuell lebt sie als Englischlehrerin in Connecticut. »Zwischen zwei Monden« ist ihr erster Roman. Henriette Zeltner-Shane, geboren 1968, lebt und arbeitet in München, Tirol und New York. Sie übersetzt Sachbücher sowie Romane für Erwachsene und Jugendliche aus dem Englischen, u. a. Angie Thomas' Romandebüt »The Hate U Give«, für das sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 ausgezeichnet wurde.

Als wir an jenem Morgen aufwachten, am ersten Tag eines sehr heißen Ramadan im Juni, fand in Abu Jamals Café gerade eine Polizeirazzia statt. Ein Dutzend Männer, deren Kleidung eher an Bauarbeiter als an Cops erinnerte, luden Dosen, auf denen Nescafé oder Lipton Tea stand, in Lieferwägen. Sie trugen Shishas aus Glas, so groß wie Kleinkinder, weg und warfen nicht zusammenpassende Tassen und Untertassen in einen großen Behälter mit zerbrochenem Porzellan. Einige hielten Hunde an der Leine – imposante Deutsche Schäferhunde und einen kleinen Beagle, der wie wild um alle Tische herumschnüffelte.

Vielleicht hätte ich das alles verschlafen. Vielleicht wäre ich erst ein paar Stunden später aufgewacht und hätte Abu Jamals Café geschlossen vorgefunden. Ein paar Monate später ersetzt durch einen anderen arabischen Laden – einen Falafel-Imbiss oder ein Reisebüro, spezialisiert auf Reisen nach Mekka. Aber ich verschlief nicht, Baba weckte mich.

»Aufwachen,ya binti«, sagte er, während er das Fenster in unserem Zimmer aufmachte. Das einzige der Wohnung, das zur Feuerleiter hinausging. »Shoofi! Die verhaften den dummen Libyer.«

Dann kletterte er in seiner schäbigen alten Galabiya auf die Feuerleiter. Die schwarzen Haare standen ihm vom Kopf ab. Im Bett gegenüber zog meine Zwillingsschwester Lina sich ein Kissen übers Gesicht und stöhnte.

»Beeil dich, Amira«, rief Baba mir zu. »Komm schauen.« Er klang begeistert. Um besser sehen zu können, beugte er sich übers Geländer und spähte auf die Straße hinunter. Baba mochte Abu Jamal nicht. Nicht mehr seit die beiden in einen großen Streit darüber geraten waren, wer den schlimmeren Diktator hätte, Ägypten oder Libyen. Das Ganze eskalierte, als Abu Jamal die Ägypter bezichtigte, alle in einen religiösen Wahn zu treiben. »Schau dir doch nur deine Frau an!«, hatte er gerufen. Da schlug Baba mit der Hand auf einen der Plastikklapptische, mitten in Abu Jamals Café. Dabei ging ein Teller zu Bruch, auf dem abgenagte Olivenkerne lagen. »Nur ein Teller«, sagte Baba später, als er an jenem Abend nach Hause kam. Doch das spielte keine Rolle – von da an hatte Baba Hausverbot. Jetzt war er gezwungen, drei Blocks weiter zum übernächsten Shisha-Café zu laufen. Und eben deshalb brachte er es nicht über sich, dem dummen Libyer zu verzeihen.

Ich schlüpfte in ein Sweatshirt von Lina, das sie auf dem Boden liegengelassen hatte, und zog mir die Kapuze über den Kopf, um mein Haar zu bedecken, bevor ich zu Baba auf die Feuertreppe rauskletterte. Die beginnende Dämmerung breitete sich wie eine große violette Prellung über New York aus, aber eine Straßenlaterne beleuchtete das Café wie eine grelle Lampe bei einem Verhör. Die Männer mit den Hunden liefen rein und raus, sprachen in Funkgeräte und schossen Fotos. Dabei bewegten sie sich dermaßen schnell, dass ich ihnen am liebsten zugerufen hätte, sie sollten langsamer machen, damit ich verarbeiten konnte, was ich sah. Auf der anderen Straßenseite fegte Imam Ghozzi, der ehrenamtlich im Islamic Center von Bay Ridge tätig war, Staub und ein bisschen Müll vom Gehweg vor der Moschee, als würde nichts Ungewöhnliches geschehen.

»Was denkst du, hat er getan?«, fragte ich Baba.

»Wahrscheinlich kleinen Babys Geld geklaut«, sagte Baba.

»Sieht so aus, als würden sie nach Bomben oder Drogen suchen«, sagte ich. Baba blinzelte dreimal kurz hintereinander, wie er das immer macht, wenn er etwas nicht gut gehört hat.

»Bomben? Nein, so was nicht.« Er trat einen Schritt vom Geländer zurück.

Ich hörte ein Geräusch hinter uns, und als ich mich umdrehte, stand Mama mit verschränkten Armen am Fenster. Ihr Gesicht strahlte rosig. Anscheinend hatte sie sich zum Gebet schon sauber geschrubbt. Sie trug eine lange graue Abaya und einen weißen Hijab.

»Was ist denn da draußen los?«, fragte sie.

»Schau,ya Maryam«, sagte Baba, »die verhaften den dummen Libyer! Komm und sieh es dir an.«

»Schande über dich, Kareem«, sagte Mama. »Willst du Unglück über uns bringen?«

Mamas Gott war ziemlich unberechenbar. Schon wegen einer Kleinigkeit konnte er sich von einem abwenden. Da musste man aufpassen.

»Nein, nein, Amira und ich sind nur hier draußen, um dafür zu beten, dass Gott dem dummen Libyer seine Sünden vergibt«, sagte Baba und grinste mich an.

Mama schnaubte. Dann beugte sie sich zu Lina, um sie zu wecken. Sie nahm ihr das Kissen vom Gesicht. Dabei streifte der Spitzensaum des Hijab Linas Wange, die ihn wie eine Fliege wegschlug. »Sabah al-khair, ya gamila«, sagte Mama.Guten Morgen, meine Schöne.

»Kommt essen«, meinte sie zu uns allen. »Es dämmert schon fast.«

Bay Ridge stand kurz davor, einen ganzen Monat mit lauter 15-Stunden-Tagen zu fasten. Wir würden ein einziger trockener Mund, ein einziger knurrender Magen, ein einziger schmerzender Kopf sein. Mütter würden mindestens eine Stunde vor Tagesanbruch aufstehen, um Pfannen voller Rührei mit Pastirma für das Suhoor-Mahl zu braten. Und wenn Kinder und Ehemänner endlich aufwachten und ihnen meist nur noch ein paar Minuten blieben, dann stopften die Mütter die Mischung in halbierte Pitabrote, damit ihre Familien sie schneller essen konnten. Rechtzeitig, um Wudu zu machen und mit Sonnenaufgang zu beten. Es war unsere letzte Chance, zu essen, zu trinken, zu rauchen, zu vögeln, zu fluchen, zu tratschen und gemeine Sachen zu denken, bis die Sonne am Abend wieder unterging.

Baba schlurfte wie ein ungezogener Hund hinter Mama her. Lina stand auf, gähnte und gab ein langes Stöhnen von sich. Mama hatte ein Frühstück aus hartgekochten Eiern, Bohnenpüree und Tomatenscheiben gemacht. Wir saßen um den Küchentisch und stopften verschlafen Essen in uns rein, wobei Eigelbkrümel auf unsere Teller fielen. Anschließend blieb Mama wie eine Aufpasserin neben uns stehen, bis wir jede drei große Gläser Wasser getrunken hatten.

»Ich geh wieder ins Bett«, sagte Lina, nachdem sie fertig war.

»Das wäreharam,ya binti«, sagte Mama und hielt sie am Kragen ihres Wu-Tang-Shirts fest.

Die Sonne kroch schon über den Horizont, und wir mussten nochFajr beten. Mama schob den Couchtisch in die Ecke des Wohnzimmers, damit wir alle vier nebeneinander Platz hatten. Dann brachte sie uns einen Korb voller feiner weißer Hijabs mit Säumen wie Zierdeckchen. Lina und ich nahmen jede einen. Mama zeigte Richtung Badezimmer, und wir schlurften, einander absichtlich anrempelnd, wie Zombies davon.

Lina stand neben mir vor dem Waschbecken. Stumm wuschen wir uns mit dem kalten Leitungswasser von New York City. Effizient und gründlich. Im Namen Gottes bekunde deine Absicht Wudu zu machen. Wasch beide Hände bis zu den Handgelenken. Spül deinen Mund dreimal aus. Reinige deine Nasenlöcher, indem du dreimal Wasser hochziehst und wieder ausbläst. Wasch dein Gesicht dreimal. Wasch dreimal deine Arme bis zu den Ellbogen. Streich dir einmal das Haar wie ein italienischer Mafioso mit Wasser zurück. Wasch deine Ohren. Wasch deine Füße. Fühlst du dich gereinigt? Bist du bereit?

Nach dem Wudu forderte Mama Baba, unser Familienoberhaupt, auf, sich vor uns zu stellen und vorzubeten. Er war allerdings ungeduldig, weil er spät in den Laden kommen würde. Baba betete sowieso nicht gern. Manchmal, wenn er in Erinnerungen an die Zeit in der alten Heimat schwelgte, erzählte er mir, wie er damals mit achtzehn in Ägypten aus seiner Dorf-Moschee gestürmt war.

»Dieser dumme Imam wollte mir einreden, der Mensch ist aus einem Klumpen Lehm und einem Klumpen Blut entstanden, und ich sage zu ihm, sind Sie dumm? Der Mensch stammt vom Affen ab, nicht vom Lehm! Also gehe ich, und zwar nach Hause. Und erkläre meiner Mama: Mama, ich bete nicht mehr. Und seit dem Tag habe ich nie mehr gebetet.«

Nur dass er natürlich doch wieder gebetet hatte. Unzählige Male. Aber ich glaubte zu wissen, was er meinte. Er meinte, dass er es danach nie wieder wirklich gespürt, nie mehr...