: Michela Marzano
: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen 'Marzanos Buch ist nicht nur ein Akt der persönlichen Befreiung, sondern auch eine nicht selbstverständliche Mutprobe.' Francesca Polistina / FAZ
: Eichborn AG
: 9783751748445
: 1
: CHF 21.40
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 367
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Als Michela Marzano sich erstmals mit der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzt, fällt sie aus allen Wolken: Sie stellt fest, dass ihr Großvater, nach gern bemühter Legende immer schon erklärter Gegner des Faschismus, seinerzeit einer der ersten Unterstützer Mussolinis war. Wie konnte es dazu kommen und welche Auswirkungen hatte diese unausgesprochene politische Prägung auf die nachfolgenden Generationen, auf Michelas strengen, patriarchenhaften Vater und letztlich auch auf sie selbst?

Ein schonungsloses Buch, ebenso persönlich wie politisch - und zugleich ein erhellender Exkurs über die Psychologie der Erinnerung und des Verdrängens, sei es persönlich oder universell.




<p><strong>Mich la Marzano</strong> wurde 1970 in Rom geboren. Sie lebt seit 1998 in Paris, wo sie Moralphilosophie lehrt. Sie schreibt u.a. für<i><b>LA REPUBBLICA</b></i> und<i><b>LA STAMPA</b></i> und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Mit<i><b>FALLS ICH DA WAR, HABE ICH NICHTS GESEHEN</b></i> erhielt sie den renommierten<i><b> PREMIO MONDELLO.</b></i> lt;/p>

Eine Michela Marzano gibt es nicht. Geburtsurkunde, Reisepass, Personalausweis, Eheurkunde: Alle bescheinigen, dass die Person, die am 20. August 1970 in Rom geboren wurde, Maria Marzano heißt.

»Warum denn Maria?« Ich bin auf der Grundschule, einer privaten Schule, weshalb ich ein Formular ausfüllen muss – eine reine Formalität, aber notwendig, damit die Schuljahre vom Ministerium anerkannt werden – und mein Vater sagt, ich soll mit »Maria« unterschreiben. Meine Eltern nennen mich aber schon immer Michela, genau wie meine Freund:innen und die anderen Kinder in meiner Klasse. Sogar meine Lehrerin sagt Michela. Und jetzt behauptet mein Vater plötzlich, dass ich Maria heiße.

Als mein Vater nach meiner Geburt zum Standesamt ging, um mich anzumelden, ließ er meinen Namen so eintragen: »Maria« Komma »Michela« Komma »Rosa«. Eigentlich sollte ich wohl »Maria Michela« Komma »Rosa« heißen, sodass auf meinen Ausweisen nicht nur der Name Maria stehen würde, den ich zu Ehren der Jungfrau Maria bekam, weil meine Mutter nach langem Warten doch noch schwanger geworden war, sondern auch der Name Michela. Meine Großmutter Rosa nahm es gar nicht gut auf, dass ihr Vorname erst an dritter Stelle kam. »Schluss mit all den Rosas, Rosarias, Rosettas und Rosellas«, hatte mein Vater gesagt, worauf meine Mutter erst »Manuela« vorgeschlagen und meine Eltern sich schließlich auf »Michela« geeinigt hatten. Eine Manuela gab es in der Familie meines Vaters nämlich nicht, dafür aber einen Michele; den Vater meiner Großmutter, Doktor Michele Campo.

Mein Vater ging also zum Standesamt, um mich anzumelden, wurde allerdings von einem Freund begleitet, der ihn überredete, auch zwischen »Maria« und »Michela« ein Komma zu setzen, Doppelnamen würden nur zu Problemen führen. Das Ergebnis: Mein eigentlicher Vorname, Michela, taucht auf keinem offiziellen Dokument auf – der Name, den meine Eltern für mich ausgewählt haben, mit dem mich die Leute ansprechen, der auf meinen Büchern und unter meinen Artikeln steht und bei dessen Klang ich mich auf der Straße umdrehe. »Michela?« – ich bleibe stehen, sehe mich suchend um, halte Ausschau nach der Person, die mich gerufen hat. »Maria?« – ich gehe weiter, ohne innezuhalten, zucke nicht einmal zusammen. Maria? Wer soll das sein?

Das einzige Stück Papier in meinem Besitz, das bestätigt, dass ich nicht nur Maria, sondern auch Michela heiße, ist meine Taufurkunde. Nur mit meiner Taufurkunde bekomme ich bei der Post ein an Michela Marzano adressiertes Einschreiben ausgehändigt, ohne mich deshalb mit den Angestellten streiten zu müssen: »Woher sollen wir wissen, ob Sie diese Michela sind, wenn auf Ihrem Personalausweis Maria steht? Es könnte ja genauso gut Ihre Mutter, Ihre Schwester oder Ihre Tochter sein. Das müssen Sie schon verstehen …«

Doch eine Taufurkunde ist nicht rechtsgültig.

Für den Staat bin ich Maria.

Für den Staat gibt es Michela Marzano nicht.

»Und wie heißt du, Papa?« Ich habe mich dazu überreden lassen, das Dokument für die Schule mit »Maria« zu unterschreiben.

»Na, Ferruccio natürlich. Warum fragst du das?«

»Hast du keinen anderen Namen?«

»Meine Mutter wollte mich auch nach ihrem Vater Michele und ihrem Mann Arturo benennen, aber auf meinen Ausweisen bin ich nur Ferruccio Marzano.«

Als ich vierzig Jahre später in den Schreibtischschubladen meines Vaters krame, stoße ich auf einen Auszug aus dem Taufregister der kleinen Stadt Campi im Süden von Apulien, in der er geboren ist.

Es ist September 2019, knapp drei Wochen sind seit der Geburt von Jacopo, dem Sohn meines Bruders Arturo, vergangen, ich besuche meine E