: Heinrich Thies
: Hanna und ihr Weg durch die Weiden Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841233783
: 1
: CHF 9.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Die Suche nach Heimat und Glück 

Im Juni 1939. Die junge Hanna wird durch den Selbstmord ihrer Mutter aus der Bahn geworfen. Sie muss ihren Hof verlassen und in den Dienst fremder Leute treten. Der privaten Katastrophe folgt die politische: der Zweite Weltkrieg. Von einer Stelle wandert Hanna zur nächsten - auf der Suche nach Halt und Liebe. Heinrich Thies hat in eindringlichen Szenen das Leben seiner Mutter nachgezeichnet: ein ehrliches, entbehrungsreiches Leben zwischen Lüneburger Heide und Allermarsch. 

Nach wahren Begebenheiten erzählt - vom Autor des Bestsellers »Alma und der Gesang der Wolken«



Heinrich Thies, geboren 1953 als Bauernsohn in Hademstorf in der Lüneburger Heide, studierte Germanistik, Politik, Philosophie und Journalistik, war von 1989 bis 2015 Redakteur bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und trat als Autor von Biographien, Romanen, Sach- und Kinderbüchern hervor. 1991 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.

Im Aufbau Taschenbuch liegen von ihm bisher »Alma und der Gesang der Wolken« und  »Die verlorene Schwester - Elfriede und Erich Maria Remarque. Die Doppelbiographie« vor.

Düstere Sommertage


Wie war das mit der Abendsonne? War da noch ein rot glühender Ball am Himmel? Oder war sie schon untergegangen? Was haben die Vögel gesungen? Dass sie gesungen haben, steht fest. Denn es war ja Juni, ein Junitag im Jahre 1939. Bestimmt hat da eine Amsel auf dem Eichbaum gesessen und ihr Abendlied geflötet. Und weiter weg, klar, da war eine Singdrossel. Die hat der Amsel geantwortet. Auch Schwalben sind zwitschernd ums Haus gesegelt, ohne Frage.

Und warm ist es gewesen, ungewöhnlich heiß für Anfang Juni. Schwaden warmer Luft wallten über den Weg, als Hanna vom Melken nach Hause radelte. Die Kiefern am Wegesrand verströmten ihren harzigen Duft. Am Fahrradlenker klapperten Milchkannen und Melkeimer. Die Milch in den beiden Kannen schwappte und gluckste, während Hanna über das holprige Pflaster fuhr. Viel Milch für drei Kühe – wohl auch genug, um Hannas Mutter zu beruhigen. Immer hatte sie Angst, dass es nicht reichte, die gute, fromme Frau. Immer diese Angst. »Wir verhungern noch alle beide«, hatte sie am Abend zuvor erst wieder geklagt. »Was soll bloß aus uns werden?« Ihr graute vor der Zukunft. Alles drohte ihr über den Kopf zu wachsen. Die schwere Arbeit auf dem Feld. »Wie sollen wir das bloß schaffen, Hanna?«, fragte sie immer wieder. »Wer mäht uns das Korn? Wer spannt uns das Pferd vor den Pflug? Wer pflügt uns das Feld?«

Seit einem halben Jahr ging das nun schon so. Seit dem Tag, an dem Hannas Vater gestorben war. Schlimm war das für Hanna gewesen, ein tiefer Schmerz. Als hätte das Leben mit einem Schlag seinen Sinn verloren, als wäre alle Freude für ewig erloschen. Alle Spiegel hatten sie im Haus nach alter Sitte verhängt. Alle Uhren hatten sie angehalten, um die Zeit stillstehen zu lassen, zuerst die große Standuhr mit dem goldenen Pendel und dem dunklen Glockenschlag. Wie ruhig war es da im Haus gewesen, als dieses Ticketacke verstummt war. Man hatte die Stille förmlich hören können. Er war ja noch so jung gewesen: sechsundfünfzig. Wasser hatte er gehabt, Beine und Füße immer wieder geschwollen, das Atmen war ihm schwer gefallen, überall hatte sich das Wasser gestaut, auch in der Lunge. Da half kein Punktieren. Das Herz schaffte es einfach nicht mehr. Es war bitterkalt an diesem Januartag, als der Kleinbauer Karl Borgmann starb. Er war allein in seiner Kammer, als sein Herz zu schlagen aufhörte. Marie, seine Frau, war beim Geburtstagskaffee gewesen. Seine Tochter hatte er weggeschickt. Heu sollte sie holen – Heu aus der Scheune am Dorfrand. Heu für die Kühe und Rinder und den Schimmel, der den kleinen eisenbereiften Wagen über den gefrorenen Dorfweg gezogen hatte. Hanna war nebenher gegangen, die kräftige Frau, die mit ihren dunkelblonden, zum Dutt zusammengebundenen Haaren aussah wie Mitte dreißig, obwohl sie erst sechsundzwanzig war. Als sie zwei Stunden später mit ihrer Heufuhre zurückkehrte, war es still im Haus. Freundlich blickten seine toten Augen sie an. Seine Mund stand offen, als wollte er ihr noch etwas sagen.

»So nimm denn meine Hände und führe mich, bis an mein selig Ende und ewiglich«, hatten sie drei Tage später bei der Beerdigung gesungen. Keine Träne hatte sie vergossen, obwohl der Schmerz so groß gewesen war. Die Leute hatten sich gewundert. Aber es war einfach nicht ihre Art, nach außen hin ihre Gefühle zu zeigen. Außerdem hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Sie hatte ja alles für ihren kranken Vater getan. Und schließlich war nach seinem Tod auch so viel zu tun gewesen. Das Vieh musste versorgt, ihre Mutter beruhigt werden. Und dann war ja auch noch die Beerdigung vorzubereiten: Haus putzen, Butterkuchen backen, mit dem Pastor sprechen. Den Toten hatten sie bis zur Beerdigung in der Schlafkammer aufgebahrt. Warum sollten sie ihn auch gleich aus dem Haus schaffen? Nur weil er nicht mehr atmete? Der lag ja da, als sei er eingeschlafen. Und es war so kalt, dass diese paar Tage dem Leichnam gar nichts anhaben konnten. Eisig war es. Wie erstarrt lag das Dorf unter der dünnen Schneedecke. Der Boden war so hart gefroren, dass es dem Totengräber nur unter größten Mühen gelang, ein Loch auf dem Friedhof auszuheben.

Aber jetzt ist es warm und immer noch hell, obwohl die Kirchturmuhr schon neunmal geschlagen hat. Immer noch flötet und trillert die Amsel in den schönsten Tönen. Sie sitzt auf Borgmanns Dach. Was macht die bloß für komische Töne? Das klingt ja fast, als wolle sie die Nachtigall nachahmen. Hanna verscheucht den schwarzen Vogel, als sie mit ihrer Milchkanne auf den Hof geklappert kommt. Sie schiebt das Rad in den Schuppen und wuchtet die Kannen an den Weg zur Milchbank, wo sie am nächsten Morgen vom Milchkutscher abgeholt werden, der schon in aller Frühe seine Pferde anspannt.

Das Gras ist feucht vom Tau, der Abendhimmel schwimmt blauviolett über dem Bahnhof auf der anderen Seite des Kornfeldes. Düster ist das Haus am Hasenberg, so düster, als schliefe schon alles hinter den rot geklinkerten Wänden und den heruntergelassenen Rollos. Müde tritt Hanna durch die große Dielentür mit den kleinen Fenstern – müde von einem langen Tag, der schon um vier Uhr morgens mit dem Melken begonnen hat und erfüllt gewesen ist vom Heuwenden. Hanna ruft nach ihrer Mutter. Keine Antwort. Küche, Stube, Kammer – alles so still. Zurück in die Diele. Niemand da? Nur die drei Schweine liegen im Stall. Grunzend schrecken sie auf. Hanna hört ihren eigenen Herzschlag, immer wilder pocht ihr Herz. Die Leiter zum Dachboden. Sie steigt hinauf. Sie entdeckt ihre Mutter, ruft sie an. »Mein Gott, Mama. Mama. Warum hast du das gemacht? Warum?« Doch sie erhält keine Antwort. Leblos baumelt die Angerufene an einem Dachbalken. Die Zunge hängt ihr aus dem Mund. Fliegen umsurren ihren Kopf.

»Gottes Wege sind unerforschlich«, predigt Pastor Trapp vier Tage später. Kein Wort des Vorwurfs. Kein Wort des Tadels. Schweres Leid habe Marie Borgmann niedergedrückt und um den Verstand gebracht, sagt der groß gewachsene Gottesmann. Eigentlich stehe es dem Menschen ja nicht zu, dem lieben Gott ins Handwerk zu pfuschen. »Aber keiner hat das Recht, einen andern zu verdammen.« Von weither scheinen diese Worte zu kommen, aber sie besänftigen Hanna. Sie hat Schlimmeres erwartet. Denn schließlich ist es ja nicht recht gewesen, was ihre Mutter getan hat. »Lasst mich gehn, lasst mich gehn. Dass ich Jesum möge sehn. Meine Seel ist voll Verlangen, ihn auf ewig zu umfangen«, singt die Gemeinde. »Vater unser, der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name«, murmeln sie in der Friedhofskapelle.

Auch Hannas Lippen bewegen sich, doch kein Ton entfährt ihnen. Die Gedanken in ihrem Kopf drehen sich im Kreis: Wie konnte sie das tun? Wie konnte sie das bloß tun? Den Kälberstrick suchen, die Leiter hinauf, auf die Kornsäcke steigen, die Schlinge ziehen und um den Hals legen … Nein, nein, nicht weiter, nicht mehr. Hanna schließt die Augen. Dieser Sarg mit den Kränzen und Kerzen – alles viel zu schön, viel zu feierlich. Bilder steigen aus dem Innern auf. Und auf einmal muss Hanna sich zwingen, nicht laut loszulachen, als sie sich vorstellt, wie ihre Mutter da unter dem Dachboden baumelt. Wie ein Schinken. Aber nein, das ist doch nicht zum Lachen. Dieser Blick, diese aufgerissenen Augen. Ein einziger Vorwurf. War es recht gewesen, dass sie immer nur abgewinkt hatte, wenn ihre Mutter von ihren Sorgen sprach? Die Feldarbeit war wirklich zu schwer für die beiden Frauen gewesen. Und hätte sie nicht jemanden ins Haus holen müssen, wenn sie nicht selbst auf ihre Mutter aufpassen konnte? Sie hatte sie doch schon öfter mit dem Strick in der Hand erwischt. »Ick will nich verhungern, lieber häng ick mi up«, hatte sie immer wieder geklagt. Immer wieder diese Frage: »Was soll bloß aus uns werden?« Dabei bestand doch gar kein Grund zur Sorge. Drei Schinken hingen ja unterm Dach.

Einmal hatte Hanna den Strick sogar unter dem Bettkissen ihrer Mutter gefunden. »Du sollst dich was schämen«, hatte sie geschimpft. »Du machst alles bloß noch schlimmer mit deinen Verrücktheiten, du bringst uns noch alle auf den Kirchhof.« Aber die Worte hatten ihre Mutter nicht erreicht. Als wäre eine Mauer zwischen ihnen gewesen, eine Nebelbank. Immer weniger hatten die beiden Frauen miteinander gesprochen. Hanna hatte ja auch von morgens bis abends geackert. Und am Ende des Tages war sie immer so müde gewesen, dass sie gleich eingeschlafen war. Irgendwie hatte sie immer gehofft, es werde schon weitergehen, wenn sie...