Das Dilemma der Asylpolitik.
Das Herz ist weit, doch die Mittel sind begrenzt
VON THOMAS MAYER
In einer Rede zum Festakt der Interkulturellen Woche am 27. September 2015 brachte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck das Dilemma der Asylpolitik auf den Punkt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Mittel sind endlich.“ Er könnte diese Rede heute wieder halten, und sie hätte auch zu den Problemen vor einem Jahrhundert gepasst. Damals stieß das Dilemma eine Entwicklung an, die in den Abgrund führte. Wie wohl kaum ein anderer hat Hannah Arendt die Gründe dafür analysiert. Auch wenn heute viele Umstände anders sind, sollten wir aus ihrer Analyse lernen.
Das Paradoxon der Menschenrechte
Laut Arendt haben Aufklärung und Säkularisierung der Schaffung von „universellen Menschenrechten“ den Weg bereitet. War davor Gott oder der Lauf der Geschichte als Quelle der Rechte betrachtet worden, so kamen sie nun in Menschenhand. Da man ihrer nicht mehr sicher sein konnte, mussten sie von den Menschen selbst bewahrt werden. Menschenrechte wurden zu Rechten von und für Menschen, die immer und überall gelten sollten. Doch die von konkreten Gesellschaftsordnungen abstrahierende Idee war nicht umsetzbar.
Traditionelle Stammesgesellschaften oder Despotien waren mit der Idee der Menschrechte inkompatibel. Dazu brauchte es demokratisch legitimierte Rechtsstaatlichkeit, wie sie nur im modernen Nationalstaat existierte. Es entstand ein Paradoxon: Wo Menschenrechte dringend nötig waren – in den Stammesgesellschaften oder Despotien –, konnten sie nicht durchgesetzt werden, und wo sie durchgesetzt werden konnten – im Rechtsstaat –, waren sie nicht nötig.
Die Idee war nach Arendt folglich nur haltbar, wenn man annahm, dass sich alle Gesellschaftsordnungen zum demokratisch legitimierten Rechtsstaat hin entwickeln würden. Solange der universelle Rechtsstaat nicht erreicht war, bestand aber die Gefahr, dass Menschen ihrer Menschenrechte beraubt wurden, wenn sie ihre Zugehörigkeit zu ihrem Nationalstaat verloren, der ihnen diese Rechte garantiert hatte.
Chaos nach dem Ersten Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg stellte die europäische Ordnung der Nationalstaaten auf den Kopf. Die Inflation zerstörte die untere Mittelschicht, während der Kollaps der österreich-ungarischen Doppelmonarchie und des zaristischen Russlands zusammen mit den Grenzverschiebungen zwischen Ländern der Sieger und Besiegten nationale Minderheiten und staatenlose Menschen schuf. Diese Gruppen hatten den Schutz ihres Nationalstaats verloren und genossen allenfalls Minderheitenrechte oder waren ohne rechtlichen Schutz.
Arendt sieht in der Aberkennung der nationalen Zugehörigkeit ein machtvolles Instrument totalitärer Politik. Damit konnten gewissenlose Politiker Minderheiten die Wertestandards der Mehrheit aufzwingen und bestimmte Minderheiten wie die Juden zum Abschaum der Menschheit erklären. Weder Minderheitenverträge noch der Völkerbund halfen. „Der Begriff ‚Menschenrechte‘ selbst wurde für alle Beteiligten – Opfer, Verfolger und Zuschauer gleichermaßen – zum Beweis für hoffnungslosen Idealismus oder schwachsinnige Heuchelei.“ (Hannah Arendt (1951), The Origins of Totalitarianism. Peguin Classics 2017, S. 352. Eigene Übersetzung aus dem Original.)
Die Flucht von Minderheiten und Staatenlosen vor