Der Koffer für Ihren Winterurlaub ist gepackt. Sie haben ihn mit warmer Kleidung, mit Pullovern, Hosen, Wollsocken und Winterstiefeln vollgestopft. Obendrauf noch ein oder zwei gute Bücher und schon kann es losgehen! Sie sind spät dran, steigen ins Auto und fahren los.
Während Sie auf der Autobahn zum Flughafen fahren, geht das Gedankenkino los: »Habe ich die Tür abgeschlossen? Habe ich die Heizung runtergedreht? Ja, alles gut!« Doch dann haben Sie plötzlich Schweißtropfen auf der Stirn. Mit Schrecken denken Sie an den Check-in-Schalter am Flughafen: »Was mag mein Koffer wiegen? Komme ich durch, ohne für Übergepäck zahlen zu müssen?«
Unsere eigenen Koffer nutzen wir (Gaby und Kai) ab und an für folgendes Experiment: Wir bitten Teilnehmer und Teilnehmerinnen unserer Workshops, einen unserer Koffer einfach mal in die Hand zu nehmen und sein Gewicht zu schätzen - natürlich ohne eine Waage zu benutzen. Was wir da alles zu hören bekommen! Die Bandbreite der Schätzungen verblüfft uns immer wieder. Nur selten ist die Antwort tatsächlich richtig, noch seltener begegnet uns jemand, der die Aufgabe mit echtem Selbstvertrauen angeht.
Es gibt einen neurobiologischen Grund dafür, warum niemand das Gewicht eines Koffers mit einem simplen Handgriff - einfach so - exakt angeben kann. Es fällt uns schwer, Gewichte richtig einzuschätzen, weil in unserem Gehirn dafür kein Zähler installiert wurde. Der Mensch denkt nicht in absoluten Zahlen. Wir sind nicht mit internen Thermometern, Waagen, Uhren oder Kilometerzählern ausgestattet. Unsere Gehirne können weder lange Entfernungen oder den Wert von etwasmessen oder Erfolgauswiegen. Unsere Gehirne sind für eine qualitative Welt geschaffen, in der wir eine Verbindung zwischen zwei Bezugspunkten legen. Die Bedeutungen, die wir einzelnen Zahlen zuweisen, sind deshalb für unser Gehirn reine Theorie und eine relativ neue Erfindung. Denn die meiste Zeit unserer menschlichen Existenz spielten Quantifizierungen überhaupt keine Rolle.
Aus diesem Grund wollen wir uns nun dem »Konzept der Relativität« zuwenden. Dabei handelt es sich nicht um Relativität im Sinne von Albert Einsteins berühmter Theorie, sondern vielmehr um die Art und Weise, wie unser Gehirn die Welt wahrnimmt. Dazu passt eine Anekdote über die Temperaturumrechnung von Celsius in Fahrenheit.
»Vergessen Sie die ganzen mathematischen Formeln«, sagte uns einmal ein erfahrener Angler. »Es ist wirklich einfach: 10 °C sind 50 °F. 20 °C sind 70 °F und 30 °C sind 90 °F.«
Darauf hingewiesen, dass seine Berechnungen immer um ein paar Grad daneben lagen - und mit steigender Temperatur immer schlechter wurden -, lächelte er und antwortete: »Können Sie ohne Thermometer wirklich den Unterschied zwischen 18 und 20 Grad erkennen? Ich glaube nicht.«
Für den Menschen, für sein System 1, ist nicht die absolute Information als solche wichtig, sondern der Unterschied zwischen zwei Informationen und vor allem, wie stark die Abweichung von den für uns als normal empfundenen Bedingungen ist. Aus evolutionärer Sicht ist der Unterschied zwischen 18 und 20 Grad bedeutungslos. Es ist nur ein Konstrukt von System 2 und dessen intellektuellen Versuchen, die Welt zu erklären. System 1 dagegen sorgt in dieser Welt für unser (Über-)Leben und muss dafür nur wissen, wann es zu warm wird, um sich noch wohlzufühlen, oder so heiß, dass man vor einem Feuer fliehen muss.
Dieses Relativitätskonzept beeinflusst Verhandlungen in vielfältiger Art und Weise, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.
Situation 4.1: Der neue Einkäufer hat keinerlei Branchenerfahrung.
Ich habe mit einem neuen Einkäufer zu tun, der vorher in einer ganz anderen Branche gearbeitet hat. In meinen Verkaufsverhandlungen kommt es immer wieder zu Verzögerungen, weil alle Beispiele, die er vorbringt, aus seiner früheren Branche stammen.
Ihre Branche ist dem neuen Einkäufer fremd. Es gibt (noch) keine gemeinsamen Diskussions- und Entscheidungsgrundlagen. Was ist gut oder schlecht? Was wichtig oder unwichtig? Und was ist neu oder alt? In Ermangelung solch gemeinsamer Orienti