: Martin Mainka
: »In Bonn ist Transparenz angesagt« Die Flick-Affäre und die Durchsetzung eines neuen Politikideals, 1975-1987
: Campus Verlag
: 9783593454122
: 1
: CHF 30.40
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: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 455
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Flick-Affäre hat ihren festen Platz in der Zeitgeschichte. Transparenz ist eines der populärsten Schlagwörter heutiger politischer Debatten. Martin Mainka begibt sich auf die Suche nach den historischen Wurzeln dieses Phänomens: Im Gefolge eines der größten politischen Skandale der Bundesrepublik Deutschland - in den 1980er Jahren wurde aufgedeckt, dass der Flick-Konzern jahrelang verdeckte Parteienspenden geleistet hatte - gewann Transparenz als Teil neuer Demokratiekonzepte an Bedeutung; die repräsentative Demokratie und die etablierten Parteien büßten an Legitimität und Vertrauen ein. Erwartungen an die Politik wandelten sich; neue politische Akteure, die ein anderes Demokratieverständnis repräsentierten, betraten die politische Bühne. Vor dem Hintergrund zunehmender Moralisierung der öffentlichen Debatte, einer neuen Härte der Parteienkritik und des Korruptionsvorwurfs wurde Transparenz zum Ideal und Leitbegriff bundesdeutscher Politik - sei es bei der Aufklärungsarbeit des Flick-Untersuchungsausschusse oder bei den Reformen der Parteienfinanzierung und der Verhaltensregeln für Abgeordnete.

Martin Mainka, Dr. phil., war von 2018 bis 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der TU Darmstadt. Seit 2023 arbeitet er an der Universität Frankfurt am Main in einem Forschungsprojekt zur Geschichte des Hauses Burda im 20. Jahrhundert.

2.Historische Rahmenbedingungen


Die Debatten rund um die Flick-Affäre können nur vor dem Hintergrund der historischen Rahmenbedingungen verstanden werden, in denen sich der Skandal ereignete. Zunächst werden die wichtigsten Merkmale der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Mitte der 1980er zusammengefasst. Anschließend wird auf die Geschichte von Korruptionsdebatten und Korruptionsberichterstattung in der Bundesrepublik vor der Flick-Affäre eingegangen. Dabei stehen derSpiegel und dessen Herausgeber Rudolf Augstein im Fokus. Schließlich werden die Transparenzforderungen und -praktiken der GRÜNEN dargestellt und aus der Sicht der kritischen Transparenzforschung eingeordnet.

2.1Krisen und Krisenbewusstsein in Zeiten des Wandels


Wie bereits in der Übersicht über den Forschungsstand zur Geschichte der 1970er und 1980er Jahre kurz dargestellt, wird diese Epoche vor allem mit den Schlagwörtern »Strukturbruch«, »Wandel« und »Krise« charakterisiert. Dabei handelte es sich zunächst vor allem um eine Diagnose aus soziologischer Sicht, der sich die Geschichtswissenschaft aber seit ca. 15 Jahren weitgehend angeschlossen hat. Sie speist sich aus verschiedenen Ereignissen und Entwicklungen, die meist im Laufe der 1970er Jahre begannen.

Während die frühen Siebziger im Zeichen der Demokratisierung, der außenpolitischen Entspannung und des Fortschrittsoptimismus standen, sah die Situation am Ende des Jahrzehnts fundamental anders aus. Mehrere Krisen brachen teilweise zeitgleich über die Republik herein und verbreiteten ein Gefühl der Unsicherheit: Ölkrise(n) und Konjunkturschwankungen und eine damit einhergehende Massenarbeitslosigkeit, Krise des Keynesianismus und des Sozialstaates, Nato-Doppelbeschluss und Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, Umweltverschmutzung und Atomkraft und nicht zuletzt das HI-Virus. Aus diesen Problemlagen entwickelte sich ein weit verbreiteter Kulturpessimismus.218 Gleichzeitig strapazierte diese Vielzahl an gesellschaftlichen Konfliktfeldern die Handlungsfähigkeit der Politik und das Wort der »Unregierbarkeit« machte die Runde und beschäftigte dabei nicht nur die Fachkreise der Politikwissenschaft und Soziologie.219 Wirsching hat die späten 1970er und 1980er Jahre als »archimedischen Punkt eines umfassenden ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturwandels« definiert, der nicht nur eine Ursache für die damaligen Krisenerscheinungen gewesen sei, sondern diese zugleich »katalytisch verstärkt« habe.220

Auf der ökonomischen Ebene kam es bereits durch die Ölkrise 1973 zur ersten großen Wirtschaftskrise und Rezession nach der Zeit des Wirtschaftswunders. Sie führte nicht nur zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit auch der Sozialausgaben, sondern stellte die Steuerungsfähigkeit der Wirtschaft nach den Konzepten des Keynesianismus in Frage. Nachdem sich die Wirtschaft zu Beginn der zweiten Hälfte der 1970er Jahre deutlich erholt hatte und auch die Arbeitslosenquote wieder leicht sank, kam es aber durch die zweite Ölkrise 1979/80 zu einer weiteren Rezession, die zudem länger anhielt und zu einem weiteren deutlichen Anstieg der Arbeitslosenquote führte. Bisher dominierende politökonomische Normen wie die des Keynesianismus und »kulturelle Orientierungsmuster« konnten, so Doering-Manteuffel und Raphael, am Ende des Jahrzehnts »keine selbstverständliche Ordnungskompetenz mehr aufweisen«.221 Mit dem Keynesianismus »erodierte die Infrastruktur des Industriesystems der Boom-Ära«, das zunehmend »politisch überholt, doktrinär und beengend« wirkte.222 Wirsching spricht in diesem Zusammenhang von einem »lautlose[n] Abschied« des Keynesianismus in Europa als Kernelement sozialdemokratischer Politik.223 Hinzu kam der langsame aber stetige Wandel von einer Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft. Diese Entwicklung setzte in der Bundesrepublik vergleichsweise spät ein, so dass man die Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre mit Wirsching noch als Industriegesellschaft beschreiben kann.224 Der einsetzende »Wandel der industriellen Produktion« wirkte sich jedoch auf die »ökonomischen und sozialen Leitvorstellungen, die nationalen Wohlfahrtssysteme, den beruflichen Alltag und die Lebenswelt der westeuropäischen Arbeitsgesellschaften« aus.225 Außerdem führten die Wirtschaftskrisen und die damit einhergehenden Sparmaßnahmen sowie die Arbeitslosigkeit zu einer steigenden sozialen Ungleichheit.226 Der Streit um die richtige wirtschaftspolitische Antwort auf die Wirtschaftskrise seit 1979 und die zunehmende Überforderung des Sozialstaates und anderer staatlicher Steuerungsmechanismen war auch ein bedeutender Faktor für das Ende der sozialliberalen Koalition 1982. Das »Lambsdorff-Papier«, in dem der Wirtschaftsminister massive Kürzungen der Sozialleistungen und Haushaltskonsolidierung bei gleichzeitiger Deregulierung und Entlastung der Wirtschaft forderte, war der »Scheidungsbrief« der Koalition, da er grundlegende Prinzipien der sozialdemokratischen Sozial- und Wirtschaftspolitik in Frage stellte.227

Auch die weltpolitische Lage veränderte sich und sorgte für zusätzliche Unsicherheit. Nach einer langen Phase der Entspannung zwischen den Weltmächten brachten der Einmarsch der Sowjetunion nach Afghanistan und der Nato-Doppelbeschluss die Gefahr eines Atomkriegs wieder ins öffentliche Bewusstsein. Diese Ereignisse sorgten nicht nur für Massendemonstrationen, sondern wurden gleichzeitig zu einem »Katalysator der Selbstverständigung über zentrale politische und gesellschaftliche Fragen« vor dem Hintergrund der Krisen und Strukturbrüche der 1970er und 1980er Jahre.228 Insofern war der Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss nicht nur gegen die Aufstellung von Raketen mittlerer Reichweite in Europa gerichtet, sondern zugleich gegen den »›Machbarkeitswahn‹ […] der auf keynesianischer Globalsteuerung aufbauenden Reformeuphorie der 1960er Jahre«.229 Die Aufrüstung wurde folglich auch als »Symptom der inneren Krise westlicher Demokratien« gedeutet.230

Eine weitere Krise – ein weiterer Umbruch – zeigte sich im Verhältnis von Mensch und Umwelt. Die Diagnose der »Grenzen des Wachstums« durch denClub of Rome zu Beginn der 1970er Jahre führte zur Erkenntnis, dass die vorherige Phase des Wirtschaftswunders nur vorübergehend war. Luft- und Wasserverschmutzung sowie die Gefahr des vermeintlichen Waldsterbens rückten in das öffentliche Bewusstsein und führten Ende der 1970er Jahre zum Aufstieg der GRÜNEN. Auch hier ging es nicht allein um ökologische Fragen. Dieser »Boom grüner Themen« hing eng mit der sozioökonomischen Krise zusammen und war ein Weg, um diese zu bearbeiten.231 Mit dem Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 verschärfte sich die Frage nach der Zerstörung der eigenen Lebensgrundlage der Moderne, wie es Ulrich Beck in seiner »Risikogesellschaft« diagnostizierte, noch einmal zusätzlich.232

Neben die umwelt- und außenpolitischen Krisen gesellte sich zu Beginn der 1980er Jahre die Angst vor dem HI-Virus. Die vergleichsweise progressive AIDS-Politik der schwarzgelben Bundesregierung verdeutlichte dabei übrigens, dass die Angst vor einer konservativen Reaktion auf gesellschaftspolitische Fortschritte größtenteils unbegründet war.233

Auch die Demokratie erschien in den frühen 1980er Jahren krisenbehaftet. Wirsching spricht hier von einer »Krise der politischen Entscheidungsprozesse, der Effizienz staatlicher Reformpolitik, der Partizipationsmöglichkeiten wie der Handlungsspielräume und schließlich auch der gesellschaftlichen Responsivität politischer Akteure«.234 Der Politik wurde sowohl die Befähigung zur Krisenbewältigung, als auch die Fähigkeit, die Interessen der Bevölkerung wahrzunehmen, abgesprochen. Politik- und Parteienkritik sind daher ein Signum, das seine Wurzeln in den 1970er Jahren hat und tief in die 1980er Jahre reichte. Obwohl der Begriff der »Politikverdrossenheit« erst zu Beginn der 1990er Jahre endgültig popularisiert und zentrale Zeitdiagnose wurde, war er bereits in den frühen 1980er Jahren...