: Britta Hoffarth, Stina Mentzing, Susanne Richter
: Geschlechter - Verhältnisse - Widersprüche
: Campus Verlag
: 9783593455594
: Hildesheimer Geschlechterforschung
: 1
: CHF 28.70
:
: Frauen- und Geschlechterforschung
: German
: 184
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gesellschaft scheint heute mehr denn je von widersprüchlichen Dynamiken geprägt zu sein. Dabei ist das Konzept der Widersprüchlichkeit vor allem als Analyseperspektive nutzbar und macht gesellschaftliche Spannungsfelder sichtbar. Der Sammelband untersucht diese gegenläufigen Prozesse im breiten Spektrum der Geschlechterforschung und richtet den Blick auf die widersprüchlichen Dynamiken von Retraditionalisierung und Liberalisierung. Ausgehend von dieser Fragestellung analysieren die Beitragenden Themen wie Männlichkeiten, queere Bildungsarbeit, Gleichstellung, Feminismus, Körper, Medien und das Phänomen der Cancel Culture.

Britta Hoffarth, Dr. phil., ist Professorin für Gender und Bildungskulturen an der Universität Hildesheim. Stina Mentzing studiert Gender und Queer Studies an der Universität zu Köln. Susanne Richter ist Geschlechterforscherin und Soziologin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Hildesheim.

Männlichkeiten im Spannungsfeld von Transformation, Persistenz und Resouveränisierung


Toni Tholen

Die seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts oft zu Recht beschriebene, bisweilen beschworene und häufig auch angezweifelte »Krise der Männlichkeit« (vgl. etwa Opitz-Belakhal/Hämmerle 2008; Bereswill/Neuber 2011; Tholen 2015: 45–49) stand von vornherein unter einem doppelten Vorzeichen: unter dem möglicher Transformationsprozesse und dem einer drohenden Restauration traditioneller Männlichkeitsvorstellungen und -praktiken. Neben einer zusehends an Fahrt aufnehmenden inter- und transdisziplinären Männlichkeitenforschung, die ihre Aufgaben vor allem darin sah (und sieht), die vielen Konstellationen von Männlichkeiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Gebieten und Disziplinen allererst einmal zu sichten, zu ordnen und im weiten Feld der Gender Studies an bereits bestehende Theorien, Konzepte und Forschungsfragen anzubinden, ließen sich in offenen, Vielfalt fordernden Gesellschaften gleichzeitig sozio-kulturelle Energien und Phantasien beobachten, die Anlass zur Hoffnung auf eine auch praktisch nachhaltige Veränderung der Geschlechterverhältnisse gaben (und geben). Diese wurden und werden nicht zuletzt begleitet durch die kritische Reflexion von Formen und Repräsentationen hegemonialer Männlichkeit. Seit der Jahrhundertwende verbreitet sich nicht zu Unrecht die Hoffnung, traditionell langlebige Strukturen männlicher Dominanz, wenn nichttel quel überwinden, so doch im Zusammenwirken wissenschaftlicher Erkenntnisse, gesellschaftlicher Diskurse und politischer Entscheidungen kritisch in den Blick nehmen und sie längerfristig auf andere, egalitärere Praktiken hin überschreiten zu können.

Der skizzierte Prozess allmählicher Veränderung wurde aber stets behindert, und aktuell wird er durch ein Bündel an Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen sogar wieder massiv angefochten (vgl. auch Maihofer 2021 sowie von Braun 2021: 339–344). Totalitäre, patriarchale Strukturen in großen Staaten sowie weiterhin neoliberal-kapitalistische Arbeits- und Wertschöpfungsstrukturen be- und verhindern die allmähliche Realisierung von Formen und Praktiken nicht-hegemonialer Männlichkeit und damit einhergehend eine noch greifbarere und nachhaltigere Veränderung der Geschlechterverhältnisse.

Ich möchte im Folgenden die angedeutete Gegenstrebigkeit und die Antagonismen in Bezug auf die aktuellen Konstellationen von Geschlecht und Männlichkeit(en) anhand dreier beispielhafter, unterschiedlich gelagerter Themenfelder kurz erörtern und dabei Transformationsprozesse, Beharrungstendenzen und Resouveränisierungspraktiken beleuchten. Die Themenfelder sind:

  1. Die transdisziplinäre Debatte um ›Caring Masculinities‹

  2. Chancen und Probleme der institutionalisierten, (literatur)wissenschaftlichen Erforschung von Geschlecht und Männlichkeit

  3. Kulturelle und politische Aktivitäten männlicher Resouveränisierung.

1.Die transdisziplinäre Debatte um »Caring Masculinities«


Im Jahre 2016 erscheint inMen and Masculinities ein Artikel von Karla Elliott mit dem programmatischen Titel:Caring Masculinities: Theorizing an Emerging Concept.Im Abstract heißt es:

»A space has emerged for theorizing ›caring masculinities‹, as the concept has increasingly become a focus of European critical studies on men and masculinities (CSMM). In this article, I present a practice-based framework of the concept. I propose that caring masculinities are masculine identities that reject domination and its associated traits and embrace values of care such as positive emotion, interdependence, and relationality.« (Elliott 2016: 240)

2017 initiierten Sylka Scholz und Andreas Heilmann eine Debatte über das die Männlichkeitenforschung nun beschäftigende Konzept in denFeministischen Studien (vgl. Heilmann/Scholz 2017; Scholz/Heilmann 2017) und 2018 fand dann in Jena eine Konferenz statt, bei der das Konzept als möglichershifter in Richtung Postwachstumsgesellschaft diskutiert wurde, explizit auch unter dem Leitgedanken einer »konkreten Utopie« (vgl. Scholz/Heilmann 2019). Noch im selben Jahr diskutierte der Arbeitskreis für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung (AIM Gender)5 bei seiner zwölften Tagung das Verhältnis von Männlichkeiten undcare auf der Ebene von Selbstsorge, Familien- und Gesellschaftssorge (vgl. Dinges 2020). Nun muss man darauf hinweisen, dass das Thema Geschlecht undcare älter ist als das hier in Anschlag gebrachte Label einer neuen Forschungsrichtung innerhalb der Männlichkeitenforschung. Es hat wesentliche theoretische Ankerpunkte in der feministischen Theorie bzw. Ethik (Gilligan 1988; Tronto 2009 [1993]; Held 2006) sowie in der interdisziplinären Erforschung von Vaterschaft und Väterlichkeit, die in Deutschland bereits im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts recht aktiv ist/war. Fokussiert wird hier vor allem auch auf das Phänomen der »neuen Väter« (vgl. Erhart 2004; Bereswill u.a. 2006; Kassner 2008; Tholen 2009; 2011).

Das Forschungsfeld ist gegenwärtig hochdynamisch, auch in seiner transdisziplinären Ausprägung. Es zeigt sich in der Tat, dass das Paradigma der Sorge in all seinen Dimensionen und Facetten großes Potenzial hat, gerade auch im Hinblick auf die theoretische wie praktische Realisierung nicht-hegemonialer männlicher Existenzweisen. Ich selbst befrage literarische Texte von männlichen Autoren danach, welche ästhetisch-sozialen Erfahrungs- und Denkmodelle sie bereit halten für eine transformatorische männliche Praxis, die sich an konkreten Sorgetätigkeiten ausrichtet und festmacht, beispielsweise hinsichtlich eines neuen Austarierens von familialer Sorge und schreibender Berufstätigkeit (vgl. Tholen 2015; 2020). In Anknüpfung an kürzlich publizierte Forschungen der Arbeitsgruppe Transformation von Männlichkeiten (AG TransforMen) ist festzuhalten, dass immer mehr Männer familiale Sorgetätigkeiten in positiver Weise in ihr Selbstkonzept einschreiben und dafür bereit sind, weniger Zeit mit Erwerbsarbeit zu verbringen und sie dadurch in ihrer Bedeutung zu relativieren. Damit stellen sie jedoch eine zentrale Säule bürgerlich patriarchaler Männlichkeit grundlegend in Frage (vgl. Maihofer 2021: 43). Fürsorgliche Tätigkeiten von Männern mitsamt den dadurch entdeckten oder erworbenen affektiven Bindungen können zu einer Transformation von Männlichkeiten und damit zu einem Wandel der Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnisse beitragen (vgl. ebd.: 50). Gleichzeitig ist das Konzept »caring masculinities« in seiner von Elliott und anderen intendierten Normativität kritisch zu befragen. So stehen (familiale) Sorgebeziehungen nichttel quel außerhalb patriarchaler Macht- und Anerkennungsbeziehungen (vgl. Tholen 2019). Die »affirmative Stilisierung neuer Männlichkeit« (Luterbach/Thym 2021: 264), die im Plädoyer für »caring masculinities« mitschwingt, behindert eher eine vertiefte und nachhaltige (Selbst-)Kritik an männlicher Herrschaft, als dass sie sie fördert. Ich möchte daher das Verhältnis von Männlichkeiten und Sorge/care eher nicht-normativ als Trajekt, als Wegstrecke, begreifen. Nur Schritt für Schritt kann sich Anderswerden und Wandel einstellen. Nötig wäre dazu eine stete Arbeit am männlichen Ich, einem Ich, das theoretisch wie praktisch die Vielfalt nicht instrumentalisierender, sondern Resonanz erzeugender Neigungen, Zuneigungen und Zuwendungen entdeckt (vgl. Tholen 2019: 222; Luterbach/Thym 2021: 263 f.).

2.Chancen und Probleme der institutionalisierten, (literatur)wissenschaftlichen Erforschung von Geschlecht und Männlichkeit


Im Folgenden möchte ich auf Persistenzen aufmerksam zu machen, die die kritische Arbeit an hegemonial-männlichen Einstellungen und Verhaltensweisen auf der Ebene institutioneller Wissenschaft begleiten bzw. behindern. Und zwar wirken in der Institution Wissenschaft nach wie vor Vorstellungen, die...