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Daniel Holbe
Oberhessen
Über den Autor:
Daniel Holbe, Jahrgang1976, lebt mit seiner Familie im oberhessischen Vogelsbergkreis. Neben der erfolgreichen Julia-Durant-Reihe, die er seit dem Tod von Andreas Franz weiterführt, schuf er eine eigene Reihe um die Ermittlerin Sabine Kaufmann, die er seit Band3 gemeinsam mit Ben Tomasson schreibt.
Wie viele Vanillekipferln sind eigentlich eine letale Dosis?
Ich weiß überhaupt nicht, warum mir diese Frage ausgerechnet jetzt in den Kopf schießt. Draußen ist es alles andere als winterlich, doch in der Firma läuft die Produktion der beliebten Backwaren längst auf Hochtouren. Im Garten herrschen frühlingshafte Temperaturen, die Blumen haben sich dazu entschlossen, neu auszutreiben. Hier drinnen duftet es nach Mandeln und Vanille, und durch die Glastür meines Büros höre ich das nie verstummende Arbeiten schwerer Maschinen.
Apropos Mandeln. Bei Bittermandeln liegen die Dinge auf der Hand: Roh verzehrt können bereits fünf dieser Nüsse ein Kind töten, bei Erwachsenen liegt die Toleranzgrenze entsprechend höher. Darauf ankommen lassen sollte man es aber nicht. Auch normale Mandeln können fatale Auswirkungen haben, allerdings nur, wenn eine entsprechende Allergie vorliegt. Deshalb produzieren wir neben den herkömmlichen Kipferln auch eine nussfreie Variante. Außerdem welche in glutenfrei, vegan und in Bioqualität. Man kann uns nicht nachsagen, dass wir die modernen Nischen der Wohlstandsgesellschaft nicht ausfüllen, und tatsächlich gehören wir zu den Marktführern im deutschsprachigen Raum.
Während meine Gedanken immer wieder entgleiten, versuche ich, den Worten zu folgen, die einer blechern klingenden Übertragung entspringen. Kurt Hohnold, Inhaber und Geschäftsführer der Firma. Ein beleibtes Männchen mit Spitzbauch und einem Ruhepuls von hundertzwanzig. Sein Blutdruck ist so hoch wie sein Terminkalender voll. Einmal habe ich gesehen, wie er sich an einer Papierkante geschnitten hat. Statt ein, zwei Tropfen Blutes spritzte es förmlich aus seiner Fingerkuppe. Gäbe es Vampire, würden sie beim Zubeißen vermutlich binnen Sekunden ertrinken. Vielleicht schützt ihn dieses Phänomen ja wenigstens vor den Moskitos. Denn Kurti – nicht viele Menschen dürfen ihn so nennen – befindet sich gerade in Mexiko, und sein in unsauberem Englisch gehaltener Vortrag richtet sich an eine Gruppe chinesischer Investoren. Mexiko. China. Ja, wir machen dem Bild eines deutschen Traditionsunternehmens wirklich alle Ehre.
Irgendwann zwischen Tortendiagrammen und Absatzprognosen greift Kurti sich an die Brust und knöpft sich das Hemd auf. Die Chinesen sitzen da, fünf Stück, alle wie aus dem Ei gepellt. Pokerfaces. Kurti schwitzt wie ein Schwein. Ein Deckenventilator flappt hier und da am oberen Rand durch das Bild. Ich höre ihn atmen. Schnell und schwer. Wie es in diesem engen mexikanischen Konferenzzimmer wohl riechen muss? Und warum gibt es dort drüben keine Klimaanlagen?
Zurück zu den Diagrammen und Prognosen. Den Mienen der Chinesen nach zu urteilen prognostiziere ich, dass sich binnen der nächsten Sekunden einer reflexartig an seine Nase greifen wird. Ist es nicht so, dass wir Europäer für die Asiaten ganz furchtbar unangenehm riechen? Stattdessen ist es Kurtis Hand, die sich bewegt. Sie fliegt in Richtung der eigenen Brust. Er gerät ins Taumeln, die andere Hand sucht den Tisch. Ein Kabel wird ihm zum Verhängnis, als Nächstes rast das Bild wie die Aufzeichnung einer Action-Cam und wird dann schwarz.
Ich finde mich stehend wieder. Mit aufgestellten Nackenhaaren, wie sie kein Horrorfilm mir jemals bereitet hat.
Das also war Kurt Hohnolds Abgang.
Kommissar Brunner erscheint ein paar Tage später. In mürbeteigfarbenem Trenchcoat und braunen Lederschuhen, die ihre besten Zeiten im vergangenen Jahrhundert erlebt hatten. Als man im Abendprogramm noch regelmäßig neue Columbo-Filme geliefert bekam. Vermutlich stammt daher auch sein Kleidungsstil. Frisur und Sprechweise haben ebenfalls gewisse Ähnlichkeiten.
»Eigentlich hatte ich für heute andere Pläne«, verkündet er mit verknittertem Lächeln.
»Wer nicht?«, erwidere ich und lächle zurück. Es ist immerhin Sonntag.
Kurti hatte auch andere Pläne. Normalerweise wäre sein Rückflug heute am Nachmittag in Frankfurt gelandet. Genau genommen ist er das auch, nur eben ohne ihn. Einen Erste-Klasse-Fensterplatz braucht er jedenfalls nicht mehr.
Brunner fragt mich ein paar Details ab, dann kommen wir zum Kern der Sache: »In welcher Beziehung stehen denn Sie zum Opfe