Der Unglücksbote
Ohne etwas von der Tragödie in Meißen zu ahnen, saß Lukas in seinem steinernen Haus in Freiberg beim Bier mit seinem Schwiegersohn Boris von Zbor, einem Ritter slawischer Herkunft.
Es war bereits dunkel. Unmengen von Schnee erdrückten die Stadt, Windböen fauchten um die Mauern, und Graupelschauer prasselten gegen die Fensterladen.
»Sieh uns an, zwei alte Männer, die sich am Feuer die Knochen wärmen und von längst vergangenen Zeiten träumen«, sagte er wehmütig und auch selbstironisch. »Ich zähle nun bald siebzig Jahre, mein Haar ist fast weiß … Du warst einmal ein Hüne …«
»Bin ich immer noch!«, protestierte der Slawe und hob den Becher. »Ich könnte dich mühelos über den Haufen rennen.«
Lukas zog die Augenbrauen hoch und grinste spöttisch. Es stimmte, Boris von Zbor war fast einen Kopf größer als die meisten Ritter. Doch er, Lukas, beherrschte trotz seiner Jahre das Schwert wie kaum jemand sonst in der Mark, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz so schnell war wie als junger Mann. Der poltrige Einspruch seines Schwiegersohns konnte ihn nicht aus seiner wehmütigen Stimmung reißen.
»Kein Mensch sollte so alt werden, dass er die meisten seiner Waffengefährten und sogar seine Kinder zu Grabe tragen muss. Selbst mein jüngster Enkel träumt schon von seiner Schwertleite …«
Den Namen seiner geliebten Frau Marthe nannte er nicht. Wenn er an sie dachte, überkam ihn jedes Mal eine Woge von Zärtlichkeit – die jäh in Schmerz über ihren Tod umschlug und ein schwarzes Loch in sein Herz riss.
Jeder wusste, dass er immer noch um sie trauerte.
So wie Boris seine Liebe betrauerte, Marthes Tochter Clara.
»Er ist jetzt vierzehn, der Kleine, oder?«, fragte der Slawe und kratzte sich am Kinn.
»Stimmt, aber als ich ihn zum ersten und einzigen Mal gesehen habe, reichte er mir kaum bis an den Gürtel«, erinnerte sich Lukas mit einem Lächeln.
Marthes Erstgeborener, sein Stiefsohn Thomas, lebte seit langem im Heiligen Land, in Akkon. Dort stand er in Diensten des Regenten von Jerusalem. Ein Jahr vor Marthes Tod hatte Lukas mit ihr eine Pilgerreise dorthin unternommen, um ihren Sohn wiederzusehen, die Schwiegertochter und die Enkel kennenzulernen.
»Ich bin froh, dass wir diese Wallfahrt noch gemeinsam erleben durften«, sagte er sehnsüchtig. »Marthe war so glücklich, sie alle in die Arme schließen zu können: Thomas, seine Frau Eschiva, beider Kinder … Sie hat die Reise trotz aller Beschwernisse so genossen.«
Seine Enkelin Änne, eine zierliche junge Frau mit Witwenschleier, legte die Spindel beiseite, die sie bis eben mit geschickten Fingern hatte tanzen lassen, griff wortlos nach dem Krug und ging in die Vorratskammer, um ihn neu zu füllen – aber nur zur Hälfte.
»Es ist schon spät«, mahnte sie.
Lukas griff sacht nach ihrem Arm. »Du bist nicht meine Magd, Liebes«, sagte er sanft.
»Irgendwer muss sich ja um dieses Haus kümmern, da du dich strikt weigerst, noch einmal zu heiraten«, hielt sie ihm schroff entgegen.
Natürlich hatte Lukas Gesinde, das ihm den Haushalt besorgte. Der Stallbursche schlief bei den Pferden, und in seinen Diensten standen eine alte Witwe und ihre zehnjährige Enkelin, die er mit dieser Anstellung vor dem Verhungern bewahrte. Doch heute halfen die beiden in der Burg aus, wo die Hälfte der Dienerschaft fiebernd und hustend darniederlag. Jetzt räumten sie gewiss zusammen mit dem Burggesinde die Küche nach dem abendlichen Mahl auf. Deshalb war Lukas mit Boris und Änne allein – abgesehen von den Knappen, die oben hoffentlich schliefen.
»Du willst doch auch nicht wieder heiraten, seit dein Mann von uns gegangen ist«, hielt er seiner Enkelin vor.
»Ich werde dich gewiss nicht zwingen«, hieb auch Boris in diese Kerbe. »Aber die Leute reden. Mit fünfundzwanzig ist dein Leben nicht vorbei. Außerdem brauchst du Schutz, wenn wir zwei Grauschöpfe eines Tages nicht mehr da sind.«
»Lass die Leute reden!«, schnaubte Änne. »Das Letzte, was ich brauche, ist ein Kerl, der am Bierkrug hängt und mir im Rausch das Geschirr kurz und klein schlägt.«
Die erste Zeit ihrer Ehe mit Konrad von Lichtenborn war glücklich gewesen, sonst hätten weder Lukas noch Boris von Zbor ihr Einverständnis dazu gegeben. Doch nachdem ihrem Mann bei einem Reitunfall ein Bein zerschmettert worden war, hatte er sich in seinen letzten Lebensmonaten aus Verbitterung dem Trunk ergeben.
Und dass Änne kein Kind lebend zur Welt bringen konnte, sondern jede Schwangers