2. Straßenszene am Stephansdom in Wien um 1900
Wien
Kalter Wind fegt über die Boulevards, als Hermann Bahr im April1891 wieder durch die Stadt seiner Jugend flaniert, die er einst verlassen musste. Es kommt ihm winterlich vor, geradezu eisig wie in Russland, wohin er kürzlich ein Theater begleitet hat. Am liebsten würde er gleich weiterreisen, nur fort von hier, und einem Freund ins warme Palästina folgen, wäre ihm nicht das Geld ausgegangen, was man ihm jedoch nicht ansieht. Zu gern kleidet er sich elegant, meist trägt er ein dunkles Sakko und einen steifen Hut. Dabei ist Bahr jung, gerade siebenundzwanzig Jahre alt, hat aber bereits in halb Europa gelebt und sich überall nicht nur Freunde geschaffen. Er ist ein kräftiger Mann mit breitem Kreuz und einem dunklen Vollbart, der ihn in dieser Welt des neunzehnten Jahrhunderts erfahren und glaubwürdig wirken lassen soll.
Bahr stammt aus der Provinz, aus Linz, aber hier in Wien hat er das Akademische Gymnasium besucht und Rechtswissenschaften studiert, bis man ihn von der Universität warf, weil er vor einer Burschenschaft eine skandalöse Rede zum Gedenken an den just verstorbenen Richard Wagner gehalten hatte. Damals, vor acht Jahren, war er radikal deutschnational gewesen: Er hatte das Habsburgerreich wegen der vielen Völker abgelehnt, das Deutschtum hochgehalten, er hatte auf die Juden geschimpft, etwas von »Erlösung« gefaselt und damit einen Tumult hervorgerufen. Nach seinem Rauswurf aus der Hochschule hatte Hermann Bahr in der Ferne, in Czernowitz, Berlin, Paris und Sankt Petersburg, neue Leidenschaften entdeckt: das Theater und die Literatur. Mittlerweile hat er das Politisieren hinter sich gelassen, nicht aber das Provozieren. Er liebt es, braucht es regelrecht für sein Wohlbefinden und wird sein Leben lang nie davon lassen. Gerade eben hat er ein schlüpfriges Theaterstück über eine lüsterne, lesbische Mutter geschrieben, das sicher nicht jedem gefallen wird. Er freut sich jetzt schon auf die empörten Reaktionen.
Nun, auf seinem Spaziergang durchs kaiserliche Wien, dürfte ihm auffallen, wie nicht nur er sich gewandelt hat, sondern auch die Metropole des riesigen österreichisch-ungarischen Reiches. Jahr für Jahr strömen Zehntausende Menschen nach Wien, sie kommen aus allen Regionen des Habsburgerreichs, aus Galizien, der Bukowina, aus Friaul-Julisch Venetien, aus Böhmen und Mähren, Siebenbürgen und Südtirol, dem Banat, der Karpatenukraine, aus der Vojvodina und aus dem besetzten, aufsässigen Bosnien und der Herzegowina. In Wien leben mehr Tschechen als in Prag, und es sind tschechische Dienstmädchen, die in diesen Jahren mit Knödeln und Palatschinken die Wiener Küche hervorzaubern, die einmal als typisch österreichisch gelten wird. Nicht nur Hilfsarbeiter suchen ihr Glück in Wien, auch Schneider, Schlosser, Tischler, Advokaten, Professoren und Fabrikanten. Die Reicheren reisen mit ihren Familien an, mieten herrschaftliche Wohnungen, schicken ihre Söhne und Töchter auf die besten Schulen, eröffnen Büros und Praxen, gründen Firmen und Manufakturen.
Schon jetzt wohnen in der Metropole knapp anderthalb Millionen Menschen. Und der Zuzug hält ungebremst an. Wenn die Stadt weiter so rasant wächst, wird sie in zwei Jahrzehnten, also um das Jahr1910, die viertgrößte Metropole der Welt sein, nach New York, London und Paris, aber vor Berlin und weit vor München. Sollte nichts dazwischenkommen, keine Seuche und kein Krieg, dürfte sie Mitte