I.
Mittwoch, 21. Februar
1.
Diese Geschichte beginnt an einem Mittwoch des vergangenen Jahrzehnts, es ist morgens um Viertel nach neun, und Maria Cristina Palma macht gerade Gymnastik. Sie ist beim bulgarischen Squat, einer Übung zur Stärkung der Oberschenkel und Gesäßmuskeln. Das eine Bein zurückgelegt, das andere nach vorn gestellt, beugt sie das Knie und starrt durch die Verandafenster in die trübe Wolkendecke. Der Feinstaub, der die Römer wochenlang zu eingeschränkten Fahrverboten mit alternierenden Nummernschildern zwang, hat sich mit dem Regen gelegt. Es ist warm in der Wohnung, doch jenseits der Doppelfenster zur Terrasse hat die nächtliche Kälte die Palmfarne und die kahle Pergola mit Raureif bedeckt. Durch die Geländerstreben ist der von Autos verstopfte Lungotevere zu erahnen, und dahinter, verschwommen im ungesunden Hauptstadtdunst, die plumpe Silhouette der Engelsburg. Das Penthouse, das Maria Cristina bewohnt, ist eines jener unerreichbaren Paradiese, von dem die meisten Menschen nicht einmal zu träumen wagen. Über dreihundert Quadratmeter in einem neoklassizistischen Wohnhaus ganz in der Nähe der Piazza Navona, vor der Tür ein Mannschaftswagen der Polizei, der Tag und Nacht Wache schiebt.
Ihr Personal Trainer, Mirco Tonik, ein Riesenbaby aus Francavilla al Mare, erzählt ihr gerade, dass er den Geburtstag seines irischen Verlobten Michael Carmichael, der Gebrauchsanweisungen für Drucker und Router übersetzt, in einem veganen Restaurant in seinem Stadtviertel Pigneto gefeiert hat. Während der Trainer von einer göttlichen Auberginen-Parmigiana schwärmt, zieht er eine Scheibe von der Langhantel, wodurch das Gegengewicht auf der anderen Seite, fünf Kilo reinstes Gusseisen, von der Stange rutscht und auf dem rechten großen Zeh der Frau landet, die einen so heftigen Schmerzensschrei ausstößt, dass das Pärchen Unzertrennliche im Emaillekäfig über den Zimmerfarnen verstummt. Der Wintergarten samt den Pfeilblättern in ihren azurblauen Töpfen, der Kentiapalme und den hängenden Trieben der Efeutute auf den Regalen wummert ihr entgegen wie ein Spezialeffekt eines schlechten Films.
Mirco Tonik, dem dämmert, welchen Bockmist er gebaut hat, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, tänzelt von einem Fuß auf den anderen und ruft seinen Schöpfer an: »Oh Gott! Oh Gott! Oh Gott, oh Gott. Was habe ich getan.«
Maria Cristina zittert vor Schmerz. Sie muss ihn einfach nur wegatmen.
Im Gegensatz zu seelischen Schmerzen neigt die Erinnerung an körperliche Blessuren dazu, mit der Zeit zu verblassen, und nach ein paar Jahren sind die Qualen eines gezogenen Zahns oder einer Blinddarmentzündung so gut wie vergessen. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit Maria Cristinas Ex-Mann, der bekannte Schriftsteller Andrea Cerri, ihr vor demHotel Locarno einen Finger in der Tür eines Golf Cabrio einklemmte. Damals war sie in die Notaufnahme des Fatebenefratelli-Krankenhauses gefahren, wo man ihr den letzten Hautfetzen durchtrennt hatte, an dem ein blutiger Klumpen aus Fleisch und Fingernagel hing. Glücklicherweise wurde der heutige Aufprall durch das Oberleder des Schuhs gedämpft.
»Wie geht es dir? Tut es weh?«, stammelt der Personal Trainer und presst sich eine Hand an die Brust.
Mit angehaltenem Atem macht Maria Cristina ihm ein Zeichen, sich zu beruhigen.
In diesem Augenblick gibt es auf der ganzen Welt oder zumindest im ersten Bezirk Roms wohl niemanden, dem Beruhigung ferner läge als Mirco Tonik. Von den sechzehn Milliarden großen Zehen, die über die Erde wandeln, ist der von ihm gequetschte einer der Kostbarsten.
Maria Cristina Palmas Füße, Schuhgröße neununddreißig, im Ayurveda das Maß der Harmonie, sind griechische Füße, deren zweiter Zeh wie bei der Venus von Milo eine Spur länger ist als der große. In der Medizin wird dieses Phänomen zu Ehren des amerikanischen Orthopäden Dudley J. Morton, der es zum ersten Mal beschrieb, »Morton-Zeh« genannt. Nur zehn Prozent der Weltbevölkerung haben ihn, und seine Verbreitung ist uneinheitlich. In den skandinavischen Ländern kommt er gar nicht vor, während er es beim japanischen Inselvolk der Ainu auf fast neunzig Prozent bringt. Wie bei der Barbie ist Maria Cristinas Fußgewölbe so perfekt, dass es nie den Boden berührt und seine Haut daher glatt und zart bleibt. Laut der Podomantie genannten Fußlesekunst deuten d