: Niccolò Ammaniti
: Ich habe keine Angst Roman | Ein spannungsgeladenes Familiendrama aus Italien. Der Weltbestseller endlich wieder lieferbar. »DAS NEUE ITALIENISCHE WORT FÜR TALENT HEIßT AMMANITI.« THE TIMES
: Eisele eBooks
: 9783961611805
: 1
: CHF 9.90
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Süditalien in den späten 70ern: Es ist ein drückender, flimmernder Sommer, in dem sich das Leben des neunjährigen Michele für immer verändert. Auf einem der Streifzüge durchs Dorf entdeckt er mit seinen Freunden ein altes, verfallenes Haus - in das Michele allein einsteigen soll. Was als Mutprobe beginnt, wird für den Jungen im Laufe des Sommers zum Albtraum, denn in dem Haus findet er einen am Fuß gefesselten, verwahrlosten Jungen. Michele behält seine Entdeckung für sich, füttert und pflegt den Jungen. Doch nach und nach stellt sich heraus, dass nicht nur er im Dorf ein Geheimnis zu haben scheint ... 

NICCOLÒ AMMANITI, geboren 1966 in Rom, ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren italienischer Sprache. Der wohl bekannteste seiner bisher acht Romane, der Weltbestseller Ich habe keine Angst gewann den Premio Viareggio, sein Roman Wie es Gott gefällt den Premio Strega. All seine Bücher wurden von international herausragenden Regisseuren für das Kino verfilmt, darunter Gabriele Salvatores und Bernardo Bertolucci. Auch Ammaniti selbst ist als Regisseur tätig. Er machte Furore mit der internationalen TV-Serie Ein Wunder, für die er auch das Drehbuch schrieb. Auch seinen dystopischen Roman Anna verfilmte er als Mehrteiler fürs Fernsehen. Nach längerer Schreibpause erscheint nun endlich sein neuer Roman Intimleben. Niccolò Ammanitis Werke wurden in 44 Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau in Rom.

1.


Ich war kurz davor, Salvatore zu überholen, als ich meine Schwester heulen hörte. Ich drehte mich um und sah sie verschwinden, verschluckt vom Korn, das den Hügel bedeckte.

Ich hätte sie nicht mitnehmen dürfen. Mama würde mich schwer dafür büßen lassen.

Ich blieb stehen. Mir lief der Schweiß. Ich holte Luft und rief nach ihr: »Maria? Maria?«

Ein leidendes Stimmchen antwortete: »Michele!« »Hast du dir wehgetan?«

»Ja, komm.«

»Wo hast du dir wehgetan?«

»Am Bein.«

Sie schwindelte, sie war müde. Geh weiter, sagte ich mir. Und wenn sie sich wirklich wehgetan hatte?

Wo waren die anderen?

Ich sah ihre Schneisen im Korn. Sie kletterten langsam, nebeneinander, wie die Finger einer Hand, zum Gipfel des Hügels hinauf, hinterließen eine Spur umgeknickter Halme.

In jenem Jahr stand das Korn hoch. Im Spätfrühling hatte es viel geregnet, und Mitte Juni waren die Pflanzen üppiger denn je. Sie wuchsen dicht, waren über und über mit Ähren beladen und warteten nur darauf, geerntet zu werden.

Alles war mit Korn bedeckt. Die niedrigen Hügel folgten aufeinander wie Wellen eines goldenen Ozeans. Bis zum Horizont nur Korn, Himmel, Grillen, Sonne und Hitze.

Ich hatte keine Vorstellung davon, welche Hitze herrschte, ein Neunjähriger versteht nicht viel von Celsiusgraden, doch ich wusste, dass es nicht normal war.

Dieser verdammte Sommer 1978 blieb als einer der heißesten des Jahrhunderts in Erinnerung. Die Hitze drang in die Steine ein, ließ die Erde zerbröckeln, verbrannte die Pflanzen, tötete die Tiere und erfüllte die Häuser mit Glut. Die Tomaten im Garten waren ohne Saft, die Zucchini klein und hart. Die Sonne nahm einem den Atem, die Kraft, die Lust, zu spielen, alles. Und auch in der Nacht meinte man, vor Hitze umzukommen.

In Acqua Traverse gingen die Erwachsenen nicht vor sechs Uhr abends aus dem Haus. Sie verkrochen sich drinnen, die Fensterläden geschlossen. Nur wir wagten uns hinaus auf das sengend heiße, verlassene Land.

Meine Schwester Maria war fünf Jahre alt und folgte mir mit der Beharrlichkeit eines Hündchens, das man aus dem Tierheim geholt hat.

»Ich will das Gleiche tun wie du«, sagte sie immer. Und Mama gab ihr Recht.

»Bist du der große Bruder oder nicht?« Da half nichts, ich musste sie mitschleppen.

Niemand war stehen geblieben, um ihr zu helfen. Normal. Es war ein Wettkampf.

»Geradeaus, den Hügel hoch. Keine Kurven. Es ist verboten, hintereinander zu gehen. Es ist verboten, stehen zu bleiben. Wer als Letzter oben ist, muss was zur Strafe tun.« Der Totenkopf hatte entschieden und mir ein Zugeständnis gemacht: »In Ordnung, deine Schwester zählt nicht. Sie ist zu klein.«

»Ich bin nicht zu klein!«, hatte meine Schwester Maria protestiert. »Ich will auch mitmachen!« Und dann war sie gefallen.

Verflixt, ich war Dritter.

Erster war Antonio. Wie immer.

Antonio Natale, genannt der Totenkopf. Warum wir ihn den Totenkopf nannten, weiß ich nicht mehr. Vielleicht, weil er sich einmal einen Totenkopf auf den Arm gepappt hatte, eines von diesen Abziehbildchen, die man im Tabakladen kaufen konnte und anfeuchten musste, damit sie klebten. Der Totenkopf war der Älteste der Bande. Zwölf Jahre. Und er war der Anführer. Er hatte gern das Sagen, und wenn man nicht gehorchte, wurde er böse. Er war keine Leuchte, doch er war groß, stark und mutig. Und er kletterte diesen Hügel hoch, als würde er nach oben gezogen.

Zweiter war Salvator