: Reiner Anselm, Isolde Karle, Ulrich Lilie, Hendrik Meyer-Magister
: Was tun, wenn es unerträglich wird? Die Frage nach dem assistierten Suizid als Herausforderung für Kirche und Diakonie
: Gütersloher Verlagshaus
: 9783641309602
: 1
: CHF 17.50
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: Religion/Theologie
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gibt es ein Recht auf Suizid?
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Paragraf 217 StGB ist verfassungswidrig, weil er es faktisch unmöglich macht, in Deutschland bei einem Suizid professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Gericht wertet das als unverhältnismäßige Einschränkung des grundlegenden Rechts auf Selbstbestimmung.

Seitdem wird eine neue Regelung diskutiert. Kirche und Diakonie sehen sich herausgefordert, schließlich verstehen sich beide als Anwältinnen des Lebens: Wie ist mit der neuen Situation umzugehen?

Dieses Buch nimmt die bisherige Debatte auf und geht den Fragen nach verantwortungsvollen Regelungen und konkreten Praktiken in den Einrichtungen nach. Eine notwendige Orientierung angesichts einer ebenso heiklen wie komplexen Debatte.

Einleitung

Reiner Anselm, Isolde Karle, Ulrich Lilie und Hendrik Meyer-Magister

Ein älteres Ehepaar berichtet beim Mittagessen, für sie gehöre ein assistierter Suizid zu den denkbaren Optionen, selbstbestimmt und ohne unnötiges Leiden aus dem Leben zu gehen, sollten sie einmal schwer und unheilbar erkranken. Eine in der ambulanten sozialen Arbeit tätige Dame berichtet, wie sie immer wieder von älteren, häufig einsamen und teilweise auch körperlich oder psychisch belasteten Klient:innen auf die Möglichkeit angesprochen werde, auf diese Weise vorzeitig aus dem Leben zu gehen.

Das sind nur zwei kursorische Äußerungen aus der Teilnehmendenschaft der Tagung »Praktiken des assistierten Suizids«, die vom 24. bis 25. November 2022 in der Evangelischen Akademie Tutzing stattfand und deren Vorträge größtenteils in diesem Band dokumentiert sind. Das rege Interesse und die intensiven Diskussionen auf der Tagung haben uns gezeigt: Das Thema bewegt die Menschen auch abseits der Fachdebatten und Feuilletons. Die Möglichkeit, sich am Lebensende Hilfe zum Suizid zu holen, ist im Bewusstsein vieler Menschen angekommen.

Mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeiten, Beihilfe zum Suizid zu leisten, stark ausgeweitet. Das Gericht erklärte § 217 Strafgesetzbuch (StGB) für verfassungswidrig. Der Paragraf hatte seit 2015 die »geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung« unter Strafe gestellt und wollte damit das Wirken von Sterbehilfevereinen in Deutschland unterbinden. Da »geschäftsmäßig« juristisch als ein auf Wiederholung angelegtes Handeln zu verstehen ist, verunmöglichte § 217 StGB faktisch jegliche – insbesondere auch ärztliche – Sterbehilfe. Das Gericht argumentiere daraufhin, der Paragraph mache es letztlich unmöglich, dass Menschen in Deutschland die Hilfe Dritter bei einem freiverantwortlichen Suizid in Anspruch nehmen. Menschen hätten ein Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Das Gericht leitete dies aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ab. Dies schließe die Freiheit ein, sein Leben – auch unter Inanspruchnahme von Suizidhilfe – zu beenden. Als Ausdruck »autonomer Selbstbestimmung« müsse dies von Staat und Gesellschaft respektiert werden, auch wenn niemand verpflichtet werden könne, Suizidhilfe zu leisten. Es sei zwar generell möglich – wenn auch nicht nötig –, dass der Gesetzgeber die Sterbehilfe reguliere, § 217 StGB sei aber unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, weil es die Wahrnehmung des Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben zu sehr einschränke.

Der Deutsche Bundestag hat am 6. Juli 2023 über zwei Gesetzesentwürfe zu einer weitergehenden Regelung des assistierten Suizid abgestimmt. Keiner der beiden Entwürfe fand dabei eine Mehrheit.1 Damit hat Deutschland nach wie vor eine Regelung, die um die Grenzen des Rechts weiß, wenn es um die Regelung solch höchstpersönlicher Entscheidungen wie dem Suizid und auch dem assistierten Suizid geht. Auf eine eigenständige Regelung des assistierten Suizids im Wissen um die Grenzen des Rechts zu verzichten, bedeutet dabei keinesfalls, diesen in einen rechtsfreien Raum zu stellen. Sorgfaltspflichten, insbesondere die Pflicht, die Freiverantwortlichkeit von Entscheidungen dieser Reichweite zu respektieren