»Anfangs lieben Kinder ihre Eltern;
wenn sie älter werden,
halten sie Gericht über sie;
manchmal verzeihen sie ihnen.«
(Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray)
»Eines kann ich nicht ertragen, und das ist Mittelmaß!«
I.
Ein ungeschliffener Diamant
oder Kass von den Beauchamps
Olgivanna Lloyd Wright, Le Prieuré, Fontainebleau, Frankreich, 15. Oktober 1922
»Sie stand in der Tür des großen Speisesaals und sah alles und jeden mit stechend intensiven, dunklen Augen an. Sie brannten vor Verlangen und Hunger nach neuen Eindrücken. (…) Ich fragte, wem dieses wundervolle Gesicht gehörte – ihren Körper hatte ich gar nicht bemerkt. ›Sie ist eine Schriftstellerin, eine Engländerin, ihr Name ist Katherine Mansfield.‹ Ich wollte sie unbedingt kennenlernen.«[27]
Wellington, Neuseeland, 14. Oktober 1888
Dieser Sonntag beginnt stürmisch. Seit den frühen Morgenstunden braust der Wind ums Haus. Doch in der Tinakori Road Nr. 11 in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington hat dafür niemand ein Ohr. Die Dame des Hauses liegt in den Wehen. Der Morgen graut schon, als das Kind endlich das Licht der Welt erblickt: Es ist ein Mädchen. Jahre später wird dieses Mädchen über jenen stürmischen Sonntagmorgen am 14. Oktober 1888 schreiben: »Sie war während eines eisigen Südsturms schreiend aus ihrer widerstrebenden Mutter gekrochen. Als die Großmutter sie vor dem Fenster wiegte, sah sie, wie das Meer sich zu grünen Bergen erhob und die Esplanade überschwemmte. Das kleine Haus war wie eine Muschel im lauten Meeresdröhnen. Unten im Graben peitschten die Bäume wild gegeneinander, und große Möwen glitten kreiselnd und kreischend am Fenster vorbei.«[28] Der Wind wird sie ihr Leben lang faszinieren und ängstigen zugleich und ein wiederkehrendes Motiv ihrer Erzählungen sein.
Einen Tag nach dem großen Ereignis findet sich unter den Geburtsanzeigen der WellingtonerEvening Post folgende Notiz: »Beauchamp – am 14. Oktober, Frau von Mr Harold Beauchamp, eine Tochter«.[29] Das Kind erhält den Namen Kathleen Mansfield Beauchamp, doch die Welt lernt sie später unter ihrem selbstgewählten Namen Katherine Mansfield kennen.
Seit 1865 neuseeländische Hauptstadt, ist Wellington in jener Zeit eine mittlere Kleinstadt mit circa 28 000 Einwohnern. Katherines Familie gehört zu den angesehenen Bürgern der von Wasser umgebenen Stadt an der südwestlichen Spitze der Nordinsel von Neuseeland. Geprägt von einem Naturhafen, der entscheidend zum Wohlstand ihrer Bewohner beiträgt, liegt sie malerisch zwischen grünen Hügeln. Eine Idylle, die Katherine durchaus mit gemischten Gefühlen betrachtet: »Zugegeben ein recht unscheinbares Fleckchen Erde, aber wenn man so wie ich rastlos in der Weltgeschichte herumzieht, dann sind es wohl gerade die unscheinbaren Orte, die es in sich haben.«[30]
Gesellschaftliche Aufsteiger wie Katherines Eltern leben bevorzugt im Stadtteil Thorndon. Hier befinden sich das neuseeländische Parlament, zahlreiche Gerichtsgebäude und Kirchen sowie die Nationalbibliothek. Im Westen durch den grünen Gürtel des Te-Ahumairangi-Hügels begrenzt, im Osten durch den Hafen, ist Thorndon eine der ältesten Siedlungen Neuseelands, errichtet beim Eintreffen der ersten europäischen Siedler 1840. Heute sind dort zahlreiche Botschaften untergebracht, auch die deutsche. Das Haus, in dem Katherine Mansfield das Licht der Welt erblickt, gehört zu den bescheiden