»Einer trage des anderen Last« –
Gemeinsam leben und handeln in
der Nachfolge Christi
Jesus von Nazareth ist für Dietrich Bonhoeffer das lebendige, immer gegenwärtige Zentrum, an dem er all sein Denken und Handeln ausrichtet. Das mag zunächst nicht verwundern bei einem evangelischen Pfarrer und Theologen. Doch die Kompromisslosigkeit, mit der Bonhoeffer an der bedingungslosen Nachfolge Christi festhält – und die ihn letztlich in den aktiven Widerstand gegen Hitler führt – ist bis heute eines der beeindruckendsten Zeugnisse für konsequent gelebtes Christentum.
Betrachtet man Bonhoeffers Lebens- und Leidensweg, fragt man sich immer wieder, woher ein Mensch die Kraft nimmt für so viel Mut, Nächstenliebe und die Bereitschaft, Verantwortung für sich und andere zu tragen. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisteten hier sicher Elternhaus und Erziehung. Als sechstes von acht Kindern wird Dietrich Bonhoeffer 1904 in eine wohlhabende, bildungsbürgerliche Familie hineingeboren, in der eine für die damalige Zeit offene und warme Atmosphäre herrscht. Vor allem anderen ist es den Eltern wichtig, ihre Kinder zu verantwortungsbewussten Menschen zu erziehen.3 Für den Vater, einen angesehenen Psychiater und Neurologen, ist dies ein humanistisches Ideal; Bonhoeffers Mutter, die aus einer preußischen Theologendynastie stammte, handelt durchaus nach christlichen Prinzipien.4 »So wurde«, schreibt Bonhoeffers langjähriger Freund Eberhard Bethge, »früh von den Geschwistern erwartet, immer die Gefühle und Bedürfnisse der anderen mitzubedenken. Lob und Tadel bezogen sich fast ausschließlich auf diesen Bereich. Dies Bedenken-der-anderen wurde eine wichtige Komponente in Bonhoeffers Theologie.«5 Wie seine Geschwister profitiert Bonhoeffer zudem von einem Haus voller Bücher. Früh liest er nicht nur die Klassiker, sondern auch philosophische, sozialwissenschaftliche und theologische Literatur. In einem Werk des evangelischen Theologen und liberalen Politikers Friedrich Naumann stößt Bonhoeffer als Primaner auf einen Widerspruch des christlichen Lebens: »Viele sind praktisch mit der rechten Hand Kaufleute und mit der linken Hand Wohltäter der Armen. […] Alle Stimmungen des Evangeliums schweben nur wie ferne, weiße Sehnsuchtswolken über allem wirklichen Tun unserer Zeit.«6 Mit seiner vehementen Forderung der Nachfolge Christi, die er 1937 nach Dissertations- und Habilitationsschrift in seinem ersten theologischen Werk7 ausformuliert, wird Bonhoeffer sich später gegen »diese saubere Trennung eines relevanten von einem irrelevanten Raum – Welt und Evangelium – […] leidenschaftlich auflehnen.«8 Als gemeinsamen Ort, in der Christen ihr Leben in der Nachfolge führen können, bestimmt Bonhoeffer die Kirche, die damit eine zentrale Stellung innerhalb seines Lebens und theologischen Wirkens einnimmt: »Der menschgewordene, der gekreuzigte und der verklärte Christus nimmt Gestalt an in den Einzelnen, weil sie Glieder seines Leibes, der Kirche sind. Die Kirche trägt die Menschengestalt, die Todesgestalt und die Auferstehungsgestalt Jesu Christi. Sie ist zuerst sein Ebenbild (Eph 4;24; Kol 3,10), und durch sie sind es alle ihre Glieder. Im Leibe Christi sind wir ›wie Christus‹ geworden.«9 Dabei betont Bonhoeffer, wie wichtig für Christen die Gemeinschaft und wie essenziell es ist, dass nicht jeder für sich allein das Wagnis der Nachfolge eingeht: »Der Christ braucht den Christen, der ihm Gottes Wort sagt, er braucht ihn immer wieder, wenn er ungewiss und verzagt wird; denn aus sich selbst kann er sich nicht helfen, ohne sich um die Wahrheit zu betrügen.«10
Bonhoeffer versucht zeitlebens, im Sinne des Paulus-Worts »Einer trage des anderen Last« (Galater 6,2) zu handeln und Verantwortung für andere zu übernehmen. So entscheidet er sich etwa in dem Moment, als ihm die Türe