Mein Großonkel Paulus van Husen
Manfred Lütz
Paulus van Husen war mein Großonkel. Ich habe ihn, den in der Familie immer eine geheimnisvolle Aura umgab, nie persönlich kennengelernt. Aber dann wurde ich ganz unerwartet durch schicksalhafte Fügung sein Erbe. In einem Schrank fand ich tief unten einen verschnürten Papierstapel mit der Notiz, das hier Niedergeschriebene erst zu veröffentlichen, wenn es niemandem mehr schaden könne. Es waren seine Memoiren, die Ernte seines abenteuerlichen Lebens, die nun diesem Buch zugrunde liegt. Es waren die Lebenserinnerungen eines Mannes, der als einer der wenigen Mitverschwörer des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 überlebt hat, der nicht nur Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Peter Graf Yorck von Wartenburg und Helmuth James Graf von Moltke kannte, sondern der auch mit dem obersten Nazipropagandisten Joseph Goebbels, dem SS-Führer Reinhard Heydrich und Feldmarschall Wilhelm Keitel persönlich gesprochen oder gar verhandelt hatte, der von Bundeskanzler Konrad Adenauer ein spektakuläres Angebot bekam, das man eigentlich nicht ablehnen konnte, und am Ende der erste Verfassungsgerichtspräsident Nordrhein-Westfalens wurde.
Es war ein unheimliches Haus, das ich im Jahre 1996 zum ersten Mal in meinem Leben betrat. Die Fenster waren mit alten schweren Vorhängen zugehangen, die Lampe beleuchtete trübe eine Szene, die jedem Hitchcock-Film alle Ehre gemacht hätte. Alte, dunkle, massige Möbel starrten mich im Wohnzimmer an. Da waren Bücherregale, düstere Gemälde mit mir unbekannten Gestalten, alte Fotos in Bilderrahmen auf den wuchtigen Kommoden und Tischen. Und überall lagen Stapel von Papieren und Büchern. Man hätte sich nicht gewundert, wenn zwischen all dem Zeug, das da offenbar schon seit Jahren seinen Platz hatte, der Blick mit der Zeit im Dämmerlicht auf eine vergessene Leiche gefallen wäre.
Hans-Norbert van Husen hatte mir geöffnet, der unverheiratete Neffe und Erbe meines Großonkels. Er war nur zehn Jahre älter als ich, hatte Medizin studiert, war Professor geworden, einer der führenden deutschen Gastroenterologen, am Ende hochangesehener Chefarzt der Raffaelsklinik in Münster. Ich war ihm nur selten begegnet, aber schätzte ihn außerordentlich mit seiner feinen, liebenswürdigen, aber etwas scheu-zurückhaltenden Art. Wir schrieben uns ab und zu. Zuletzt hatte ich ihn auf meiner Hochzeit 1995 gesehen, da war er noch froh und zuversichtlich gewesen. Aber der mir da jetzt die Tür öffnete, war ein gezeichneter Mann. Vor einem Jahr hatte er bei sich selber Darmkrebs diagnostiziert und kurz danach ganz unerwartet einen Schlaganfall erlitten. Hans-Norbert, der nur der Wissenschaft gelebt, Bücher und Aufsätze publiziert und deswegen kaum ein Privatleben gehabt hatte, konnte nun weder lesen noch schreiben und man verstand ihn nur schwer. Er lächelte, als er mir öffnete, und humpelte mir voraus ins Wohnzimmer.
Ich erinnere mich, dass wir mit unserer ganzen Familie Ende der 1960er Jahre nach Münster gefahren waren, um Onkel Leo und Tante Marli, die Eltern von Hans-Norbert, zu besuchen. Leo van Husen war der zwölf Jahre jüngere Bruder von Paulus van Husen. Und dann gab es da noch die Schwestern, meine Großmutter Maria und Luise, die alle Tante Ite nannten, und die unverheiratet mit dem ebenso unverheirateten Paul zusammenlebte. Er legte übrigens wert darauf, Paulus genannt zu werden – was die Familie nicht daran hinderte, immer nur von »Onkel Paul« zu reden. Merkwürdigerweise besuchten wir ihn damals nicht, fuhren mit dem Auto nur an seinem Haus am Aasee vorbei. In diesem Moment machte oben jemand die Fensterläden zu. Meine Mutter zuckte zusammen: »Das war Tante Ite«, flüsterte sie.
Tante Ite, die ich ebenso nie persönlich erlebt habe, hatte in der Familie einen Ruf wie Donnerhall. Das kam daher, dass meine ganz jung verwitwete Großmutter Maria 1935 bei Onkel Paul und Tante Ite in Berlin-Grunewald eingezogen war – mitsamt ihren sechs Kindern zwischen neun und 18 Jahren. Maria war mit ihrer Situation offenbar heillos überfordert und deswegen nahm ihr Br