Im Jahr 1966 fällt der Startschuss für eine einzigartige Karriere in der deutschsprachigen Soziologie: Niklas Luhmann wird an der Universität Münster nicht nur promoviert und habilitiert, sondern beginnt auch umstandslos mit der Präsentation seines Programms einer Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Systemen. In nur vier Jahren entwirft er in beeindruckender Souveränität die Grundlagen seines Forschungsprogramms der nächsten Jahrzehnte. Die ausführlichen Vorlesungsskripte, die Luhmann beim Verfertigen seiner Theoriegrundlagen und ihrer ersten Anwendung auf Politik und Recht zeigen, werden hier erstmals aus dem Nachlass publiziert.
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Ein aufklärerischer Grundzug der Soziologie tritt an mehreren für das Fach zentralen Stellen besonders deutlich hervor. Ich erwähne nur zwei, die ich ausführlicher erörtern möchte: Erstens den Versuch, menschliches Handeln durch inkongruente Perspektiven zu erklären, und zweitens den Übergang von Faktortheorien zu Systemtheorien.
Für alle Bemühungen der alteuropäischen »Praktischen Philosophie« war die Absicht bezeichnend gewesen, dem Handelnden sein richtiges Handeln vorzustellen. Die Homogenität der Perspektiven des Denkenden und des Handelnden wurde wie die Gemeinsamkeit der Welt und der Vernunft als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Wissenschaft wurde als ratgebende Wissenschaft gesehen: Sie sollte dem Handelnden seine wahren Zwecke erläutern, sie sollte ihm die richtigen Mittel zeigen, und sie sollte ihm dazu verhelfen, die rechte Grundverfassung (Tugend) zu erlangen. Sie sollte das so erläutern, daß der Handelnde danach handeln konnte. Die Bindungen an die engen pragmatischen Auslegungen des Handlungshorizontes wurden als Merkmal ihres Gegenstandes erlebt.Davon – und nicht etwa von Werturteilen schlechthin – macht die Soziologie sich frei.
Zunächst geschieht dies dadurch, daß sie eine eigentümlich verfremdende Erkenntnistechnik aufnimmt und sich zu eigen macht, die im 19.Jahrhundert aufkommt. Der Sinn des Handelns wird nicht mehr durch Versenkung in sein Wesen, seintelos geklärt, sondern im Gegenteil durch Anlegung eines diskrepanten, unangemessenen, fremdartigen Maßstabes. Kenneth Burke hat dafür die treffende Formel »perspective by incongruity« geprägt.[4] Beispiele dafür sind die Ableitung des Denkens aus nicht mitgemeinten öko12nomischen Lebensbedingungen bei Karl Marx oder als Sublimierung eines fundamentalen Sexualtriebs bei Sigmund Freud. Oder Friedrich Nietzsches Verwendung einer unheiligen Symbolik zur Darstellung religiöser Verzweiflung. Oder die Romanthemen in der französischen und russischen Literatur, in der die Ehe als Institution an der außerehelichen Liebe gemessen wird und das religiöse Motiv am Verbrechen. Oder denken Sie an Oswald Spenglers Vergleich historisch entfernter Kulturen als »gleichzeitig«. Henri Bergson und Hans Vaihinger erläutern Begriffe und Abstraktionen durch Beziehung auf den Zeitfluß und als Verdeckung von Widersprüchen. Auch die verfremdenden Kunstrichtungen des 20.Jahrhunderts können genannt werden.
All das hat Erfolg, nicht nur populären Erfolg, sondern Erkenntniserfolg, ohne daß es gelänge, diesen Erfolg erkenntnistheoretisch nachzukonstruieren. Die Aufklärung dient nicht mehr der Ausbreitung von Vernunft und Tugend. Sie nimmt einen entlarvenden, diskreditierenden, zerstörenden Zug an. Und die Soziologie schwimmt ein gutes Stück mit in diesem Strom, kriecht hinter die offiziellen Fassaden, untersucht anrüchige Motive und zweite Absichten, latente Funktionen. Bei diesem Geschäft der Entlarvung entdeckt sie, daß die soziale Determination des Handelns sehr viel weiter reicht, als man gemeinhin angenommen hatte. Eine soziale Determination sitzt schon in den Wahrnehmungen und den Bedürfnissen, in den Mythen, in den Selbstmordziffern und im Konsum, in der Sprache selbst und erst recht in den Selbstverständlichkeiten der öffentlichen Moral. Durch so viel Determination verliert der gemeinte Sinn des Handelns sein kompaktes, undurchsichtiges und insofern wahrheitsfähiges Sein als etwas, dasso ist und nicht anders. Durch so viel Aufklärung wird ein noch verborgenes Problem spürbar: die soziale Kontingenz der Welt. Alles könnte anders sein, anders gesehen werden, alles ist erlaubt.
Große Theorie ist jetzt nur noch möglich als Vorschlag zur Lösungdieses Problems – nicht als eine immer mehr entlarvende Aufklärung (die läuft von selbst), sondern als Durchblick auf die Grenzen der Aufklärung dieses neuen Stils, als Abklärung der Aufklärung. Ein symptomatischer Beleg dafür ist, daß die Soziologie genau hier, in der Suche nach einem Gegenhalt in der abrutschenden Aufklärung, ihren Weg als Fach von theoretischer Eigenständigkeit beginnt. Max Weber und Émile Durkheim lösen die13Soziologie ab von ökonomischen, psychologischen, biologischen, universalhistorischen Ausgangsannahmen und begründen ihre Eigenständigkeit genau mit dem Gedanken, mit dem sie die entlarvende Aufklärung abbremsen.
Zunächst stehen für dieses Abfangen der Entlarvungsaufklärung nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung: subjektive und objektive Reduktion. Max Weber hält am subjektiv gemeinten Sinn des Handelns als einzig sicher gegebenem Faktum fest und versucht, daraus Idealtypen zu bauen. Émile Durkheim verdeckt die soziale Kontingenz der Welt durch seine These von der objektiven Dinghaftigkeit sozialer Tatsachen. Beides ist unzulänglich, wie schon die unversöhnliche Gegenüberstellung verrät. Erst die bei Weber und Durkheim in Ansätzen vorgebildeteTheorie des sozialen Systems scheint eine Synthese zu ermöglichen und damit, wie ich glaube, zugleich eine Abklärung der Aufklärung.
Um ein Urteil über die Bedeutung des Systembegriffs für die soziologische Theoriebildung und zugleich für das Problem der Aufklärung zu gewinnen, ist es nützlich, sich einen Grundzug der Theorieentwicklung vom 19. zum 20.Jahrhundert klarzumachen. Er besteht in einemÜbergang von Faktortheorien zu Systemtheorien.
Faktortheorien – das sind Versuche der Erklärung sozialer Gebilde durch bestimmte einzelne Ursachen. Zum Beispiel durch ökonomische Bedürfnisse und die Weisen ihrer Befriedigung, durch psychologische Triebe wie den Kampftrieb oder den Nachahmungstrieb, durch anthropologische Gegebenheiten, zum Beispiel die mangelhafte Ausrüstung des Menschen für den Existenzkampf, oder durch Rassendifferenzen, klimatische Verhältnisse, biologische Auslesevorgänge. All diese Versuche scheitern, sofern sie Ursachen exklusiv oder doch dominant setzen, an ihrem zu einfachen Erklärungsansatz.Systemtheorien haben im Vergleich dazu ein sehr viel größeres Potential für Komplexität. Sie begreifen soziale Gebilde jeder Art – Familien, Produktionsbetriebe, Geselligkeitsvereine, Staaten, Marktwirtschaften, Kirchen, Gesellschaften – als Handlungssysteme, die sich in einer übermäßig komplexen Umwelt erhalten und dabei eine Vielzahl von Problemen lösen müssen. Es14geht bei der Systembildung mit anderen Worten darum, die unfaßliche Komplexität der Welt auf handlungsfähigen Sinn zu bringen, sie zu reduzieren.
Mit dem Übergehen von Faktortheorien zu Systemtheorien wird die soziologische Theorie von außersozialen Ursachenannahmen abgelöst, die Soziologie also als Fach selbständig. Und zugleich damit ändert sich ihr Aufklärungsstil. Die Faktortheorien hatten Entlarvungsaufklärung getrieben durch das Aufdecken nicht eingestehbarer, peinlicher Ursachen des Handelns. Sie hatten den Handelnden selbst damit diskreditiert. An die Stelle der »eigentlichen« Ursachen des Handelns tritt nun das Aufdecken sehr komplexer, systemfunktionaler Sinnbeziehungen, die dem Handelnden nicht bewußt waren, ja nicht bewußt werden konnten. Auch das ist eine Kritik des Handelns, aber sie zieht nicht beschämend einfache Grundmotive wie bloße Nachahmung, Libido oder wirtschaftliches Interesse ans Licht, sondern sie stellt das Handeln dar als eine allzu drastische, grobe Vereinfachung einer sehr viel komplizierteren sozialen Wirklichkeit. Die Handlungsorientierung wird damit nicht als kunstvolle Scheinwelt, als bloße Verschönerung unedler Motive...