: Oskar Bätschmann
: Das Kunstpublikum Eine kurze Geschichte
: Hatje Cantz Verlag
: 9783775755283
: Hatje Cantz Text
: 1
: CHF 21.70
:
: Kunst
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Neben Produktion und Verbreitung ist die Rezeption das dritte große Forschungsgebiet der Kunstgeschichte. In der Regel erfolgt dabei eine Fokussierung auf die individuelle Rezeption. Das Kunstpublikum. Eine kurze Geschichte untersucht dagegen erstmals die Bedeutung eines notwendigen, aber meist u?bersehenen Akteurs im Kunstbetrieb. Bildliche und schriftliche Zeugnisse aus allen Zeiten dokumentieren das Verhalten des Publikums und die unterschiedlichen Beurteilungen durch Ku?nstlerinnen und Ku?nstler, Sammlerinnen und Sammler sowie Kritikerinnen und Kritiker. Bätschmann zeigt auf, dass die Sachverständigen im Kunstsystem stets zwischen zwei Extremen schwanken: Sie stehen dem Publikum entweder skeptisch gegenu?ber und verachten dessen Geschmack oder sie schmeicheln der Masse und wollen ihren Applaus. OSKAR BÄTSCHMANN (*1943) gehört zu den wichtigsten Kunsthistorikern unserer Zeit. Er lehrte in Zu?rich, Freiburg i.Br., Gießen und Bern und hatte längere Forschungsaufenthalte am Getty Center, Santa Monica, an der Bibliotheca Hertziana, Rom, sowie am Center for Advanced Study in the Visual Arts an der National Gallery of Art, Washington, D.C. Bätschmanns Bu?cher, darunter Einfu?hrung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik und Ausstellungsku?nstler, gelten als Klassiker des Fachs.

Der Anteil des Publikums

1989 entdeckte der Photograph Thomas Struth in Wien das Museumspublikum als Sujet und dokumentierte fortan Besuchergruppen und einzelne Personen vor Gemälden und Skulpturen.1 1990 entstanden Aufnahmen in den Vatikanischen Museen, unter anderen die Photographie des Publikums vor RaffaelsBorgobrand.2 Der Photograph nimmt einen erhöhten Standpunkt hinter der Gruppe ein, die in Rückenansicht anonym bleibt, allein der Kunstführer und zwei weitere Personen sind im Profil erfasst. Die Besucher sind durch biedere Mäntel einander angeglichen, nur eine Dame trägt ein Pelzcape. Der verhüllte Haufen kontrastiert mit den bewegten nackten Figuren in der gemalten Basis. Der Photograph ist der unbemerkte Beobachter des Publikums, der abwartet, bis sich eine günstige Konstellation für seine Aufnahme einstellt. Indem wir seine Photographie betrachten, treten wir in seine Rolle als Beobachter ein.3

Im Museo del Prado in Madrid entstanden 2005 einige Aufnahmen aus schrägem Blickwinkel (Abb. 1), sodass Velázquez’ GemäldeLas Meninas an den Rand und das Publikum in die Mitte rückt. Wie auf vielen Aufnahmen Struths ist das Publikum gemischt. Vor denMeninas bearbeiten und diskutieren Internatsschülerinnen ihre Aufgaben und Notizen zum Gemälde. Ein Mädchen stellt sich allein vorne vor das Gemälde, was zu einem Vergleich mit der Infantin Margarita Teresa und ihren Hofdämchen im Bild einlädt. Links ist zahlreiches Publikum aus Frauen und Männern aufgereiht, darunter sind eine Frau mit Photoapparat, ein Kunstgelehrter und eine Galerieführerin zu erkennen. Weiter hinten hebt ein Mann einen Apparat in die Höhe. Ein Paar studiert die Erläuterung des Museums zum Gemälde. Die Aufmerksamkeit des Publikums gehört ganz denMeninas, und auf das Gemälde der Infantin links daneben fällt kein Blick. Wie in vielen Museumsphotographien Struths handelt es sich um interessierte Museumsbesucher, nicht um Touristen, die einem Werk nur zwanzig Sekunden widmen bevor sie weiter schlendern.

Manchmal nimmt Struth eine einzelne Person auf: eine Photographie von 1989 z. B. zeigt einen weißhaarigen Mann als Betrachter im Kunsthistorischen Museum in Wien vor zwei Gemälden von Rembrandt.4 Der Mann ist bekleidet mit einem dunkelblauen Regenmantel, hält die Hände hinter den Rücken und umfasst mit der Rechten drei Finger seiner linken Hand. Es ist unvermeidlich, bei diesem konzentrierten Betrachter an das alter ego des anderen Thomas zu denken, den keifenden Reger, dem sich im Kunsthistorischen Museum vor Tintorettos GemäldeWeißbärtiger Mann all der Ekel über Österreich und die Welt hochwürgt.5 In der Alten Pinakothek in München stellt sich ein einzelner Mann vor Albrecht DürersSelbstbildnis von 1500, das frontal an der Wand gezeigt ist, während vom Betrachter in der blauen Jacke nur der linke Arm, etwas von der Hose und vom Kinn zu sehen ist.6 Die Betrachter der Porträts von Rembrandt und Dürer bleiben anonym wie die von hinten aufgenommenen Gruppen. Dagegen wendet sich der Photograph für die Aufnahmen in der Galleria dell’ Accademia in Florenz von 2004 dem Publikum zu, das sich staunend vor Michelangelos kolossalemDavid gruppiert.7 Die Kleidung verrät die Touristen: die Männer in Shorts, die Frauen in Jeans und Shirts.

Zuweilen platziert Struth für seine Aufnahmen auch Statisten, wie etwa im Berliner Pergamonmuseum, wo sie in kleinen Gruppen sitzen, stehen oder eine Gesprächssituatio